„Keiner der Angeklagten ist (...) der Ermordung oder der Misshandlung irgendeiner bestimmten Person beschuldigt. (...) Einfacher Mord und Einzelfälle von Gräueltaten bilden nicht den Anklagepunkt für die Beschuldigung. Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts unter der Autorität des Justizministeriums und mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.“
(Aus dem Nürnberger Juristenurteil)
Die Urteile der Siegermächte des zweiten Weltkriegs zwischen 1945 und 1949 gehörten zu den am meisten umstrittenen Akten der Rechtsprechung im Bereich des internationalen Rechts. Während die einen – vor allem die betroffenen Angeklagten, ihre Gesinnungsgenossen, aber auch etliche Rechtsgelehrte und Politiker – von blanker „Siegerjustiz“ sprachen, zählten die Urteile bei den anderen zu den Fundamenten eines erweiterten, in vielerlei hinsichtlich neuen internationalen (Straf-)Rechts. Aus heutiger Sicht kann man die letzt genannte Einschätzung nur unterstützen. Nicht nur das: die Urteile begründeten – neben den Konferenzen von Jalta, Teheran und Potsdam und der Gründung der Vereinten Nationen – auch die vielfältigen, wenn auch in den nachfolgenden Jahrzehnten durch den „Kalten Krieg“ immer wieder durchbrochenen, Bemühungen, durch das Verbot des Angriffskriegs, der Schaffung von Straftatbeständen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen gegen den Frieden und Kriegsverbrechen ein völlig neues internationales Recht zu schaffen, das die Grundlage der Nachkriegs(welt)ordnung werden sollte. (1)
Anfang der 60er Jahre waren in der Bundesrepublik Deutschland – anders als in der damaligen DDR – die Urteile des Internationalen Militärgerichtshofs mit dem Bann des Tabus belegt. Man wollte noch immer verdrängen und auch verleugnen. Hinzu kommt, dass viele in diesen Prozessen Verurteilte längst wieder, zum Teil vorzeitig, aus der Haft entlassen worden waren. Die Urteile selbst waren – außer gegen die Hauptangeklagten, die größtenteils zum Tode durch den Strang verurteilt und hingerichtet wurden – trotz aller gegenteiligen Kritik insgesamt eher milde angesichts der Verbrechen, die die Angeklagten sich vorwerfen lassen mussten. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer (13.8.1961), der eine neue Stufe im „Kalten Krieg“ einleitete, kam im Dezember 1961 Stanley Kramers „Gerichtsdrama“ „Judgment at Nuremberg“ in die Kinos – auch in der Bundesrepublik Deutschland –, der einen der Nürnberger Prozesse zum Thema hatte: den Juristenprozess, der tatsächlich zwischen März und September 1947 stattgefunden hatte, im Film (der übrigens an Originalschauplätzen gedreht wurde) in das Jahr 1948 verlegt wurde. Die Personen des Films sind frei erfunden, viele Aspekte der Handlung allerdings beziehen sich direkt auf den wirklichen Prozess.
Ein konservativer Richter aus der amerikanischen Provinz, Dan Haywood, „von Natur aus“ Republikaner, wie er sagt, der jedoch den Demokraten und vormaligen (verstorbenen) amerikanischen Präsidenten Roosevelt für einen großen Mann hielt, soll in der noch immer von Trümmern gezeichneten ehemaligen „Reichsparteitagsstadt“ Nürnberg den Prozess gegen vier ehemalige Richter des NS-Staates leiten. Angeklagt sind der ehemalige Justizminister Dr. Ernst Janning sowie die Richter Emil Hahn, Werner Lampe und Friedrich Hofstetter. Während sich die letzten drei Angeklagten in der Eröffnungsverhandlung für nicht schuldig erklären, schweigt Janning auch in den folgenden Wochen des Prozesses beharrlich. Sein Verteidiger, der junge Anwalt Hans Rolfe, ist umso beredter, erklärt Janning von sich aus für nicht schuldig und betrachtet ihn als großes Vorbild für seine eigene Tätigkeit. Die Anklage vertritt Colonel Lawson, ein Mann, der bereits in anderen Prozessen gegen NS-Täter Erfahrungen gesammelt hat und als „scharfer Hund“ gegen NS-Angeklagte gilt. U.a. war er auch Ankläger im Prozess gegen General Bertholt, der zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war. Im Haus von dessen Witwe (gespielt von Marlene Dietrich) ist Richter Haywood für die Zeit des Prozesses einquartiert; ihm zur Verfügung steht das Ehepaar Halberstadt als Hausangestellte.
Als Zeugen der Anklage fungieren u.a.
– der ehemalige Justizminister Dr. Wieck, den Janning 1935 im Amt ablöste, weil Wieck die Politik des NS-Staates nicht mehr unterstützen wollte;
– der Bäckergeselle Rudolph Petersen, gespielt von Montgomery Clift, eines der Opfer der Zwangssterilisationen der Nazis;
– eine Frau Irene Hoffmann Walter, die wegen „Rassenschande“ mit einem jüdischen Geschäftsmann namens Feldenstein zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war, während Feldenstein hingerichtet wurde;
– Dr. Heinrich Geuter, Verteidiger im Feldenstein-Prozess, in dem Hahn Anklagevertreter und Janning Richter war.
In eindrucksvollen Auseinandersetzungen zeigt Kramer anhand dieser Zeugenaussagen nicht nur die unterschiedlichen juristischen Auffassungen über Schuld oder Unschuld der Angeklagten. Der Film geht weit darüber hinaus. Er zeigt fast alle Konflikte auf, die im Zusammenhang mit der Beurteilung von NS-Straftaten nach Ende des zweiten Weltkrieges auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurden.
Dabei sind besonders die schauspielerischen Leistungen hervorzuheben, weil sich gerade in ihrer Darstellung die unterschiedlichen (juristischen und politischen) Positionen als Charaktermerkmale der Beteiligten entpuppen. Diese Kongruenz zwischen „äußerem“ Geschehen und „inneren“ Abläufen vor allem bei den Prozessbeteiligten macht eine große Stärke des Films aus. Die zweite Stärke besteht darin, dass Kramer den beengten Raum eines Gerichtssaals in überzeugender Weise dazu nutzen kann, die Tragödie der Jahre 1933-45 plastisch, minutiös, sozusagen im konzentrierten Kleinformat darzustellen. Täter, Opfer, Angeklagte und Ankläger, Richter und (Welt-)Öffentlichkeit greifen in diesem Raum in einer Weise Platz, wie dies kaum einem anderen Film je gelungen ist. Zum dritten gelingt es aber auch und vor allem, die entscheidenden Fragen im Zusammenhang mit der Verurteilung von Tätern und dem – nicht nur justizförmigen Umgang – mit dem NS in spannender Weise für ein interessiertes Publikum aufzubereiten.
Last but not least versteht es Kramer, durch den Wechsel von zumeist sehr langen Szenen im Gerichtssaal mit wesentlich kürzeren Szenen außerhalb, sozusagen Atempausen, die aber weit mehr sind und die entscheidenden Themen ergänzen und füttern, über drei Stunden mit seinem Film zu fesseln.
Schon bei der Vernehmung des ersten Zeugen, des Vorgängers im Amt des Justizministers, Dr. Wieck, werden die Konflikte mehr als nur angedeutet. Wieck erzählt von der Änderung des Justizsystems nach 1933 und dass er dies nach 1935 nicht mehr mittragen konnte, dass nur wenige im Bereich der Justiz protestiert hätten. Rolfe baut seine Verteidigung geschickt auf: Hat der NS nicht die Arbeitslosen von der Straße geholt, den Kommunismus beseitigt und hat nicht Dr. Wieck selbst 1934 den Treueeid auf Hitler geschworen? Mit dieser Kombination aus sattsam bekannten Pseudoargumenten und der Verstrickung auch Wiecks in den NS stellt er den Zeugen der Anklage letztlich kalt.
Auch beim zweiten Zeugen, dem Bäckergesellen Petersen (eindrücklich von Montgomery Clift dargestellt), nutzt er gnadenlos Schwächen: Petersen wurde wegen die „Volksgesundheit schädigenden Schwachsinns“ zwangssterilisiert. Hofstetter hatte das Urteil zu verantworten, Janning hatte es bestätigt. Zum Schluss der Vernehmung hin stellt Rolfe dem Zeugen eine Aufgabe: Er solle einen Satz aus den Worten „Hase, Jäger, Feld“ bilden. Petersen scheitert daran, so dass er als „Schwachsinniger“ da steht. Rolfe argumentiert zusätzlich damit, dass ein Gericht in einem US-Staat ebenfalls eine Zwangssterilisation mit der Volksgesundheit begründet habe und das Thema lange vor 1933 auch in anderen Ländern diskutiert wurde.
Erst bei der Vernehmung der Zeugin Hoffmann gelingt es der Anklage, bedingt durch Fehler Rolfes, zu punkten. Rolfe drängt die Zeugin so weit in die Enge – sie solle doch zugeben, dass sie ein Verhältnis mit dem Juden Feldenstein hatte –, dass der Angeklagte Janning sich das erste Mal erhebt und gegen die Vernehmung Rolfes mit den Worten protestiert: „Herr Rolfe, ist es schon wieder so weit?“
In all diesen Vernehmungen, aber auch in den Gesprächen, die Richter Haywood mit dem Ehepaar Halberstadt und der Generalswitwe Bertholt führt, werden wir mit den genannten Brennpunkten des justizförmigen Umgangs mit NS-Tätern usw. konfrontiert.
„Wir haben nichts gewusst“
Sowohl das Paar Halberstadt wie einer der angeklagten Richter und Frau Bertholt behaupten, von den Gräueln, vom Holocaust nichts gewusst zu haben. All dies sei „in aller Stille“, geheim abgelaufen. Zu Recht fragt Janning in seiner einzigen Einlassung im Prozess: „Wo waren wir, als von den Gleisen die Züge abfuhren? Wenn jemand nichts wusste, dann weil er nichts wissen wollte.“
„Wenn wir nicht gewesen wären, wäre es noch schlimmer gekommen“
Auch diese Behauptung eines Angeklagten, verkoppelt mit dem weiteren Argument, man habe ja heimlich einigen Leuten zur Flucht verholfen, und vor allem mit der Behauptung, man habe nicht geahnt, was (nach dem Beschluss der Wannsee-Konferenz über die „Endlösung der Judenfrage“) noch kommen werde, stellt Kramers Film bloß als das, was es ist: entweder eine reine Schutzbehauptung oder, wie es Richter Haywood Janning gegenüber ausdrückt: Angefangen hat es nicht mit der Vernichtung von Millionen, sondern mit dem ersten Todesurteil, das u.a. er gefällt habe (2).
„Nationalsozialismus und Deutschland sind zwei paar Dinge“
Janning selbst straft diese Behauptung, auf der auch Rolfe zur „Ehrenrettung des deutschen Volkes“ immer wieder rekurriert, in seiner Einlassung der Lüge: Er habe geglaubt, das Vaterland sei gegen Ende der Weimarer Republik in Gefahr gewesen, Hitler habe in ihm und Millionen anderen die Hoffnung erzeugt, es zu retten. Aus diesem Grund habe er alles in Kauf genommen; sein Urteil im Feldenstein-Prozess habe dann – nachdem er alles hingenommen habe – von vornherein, bevor er noch den Gerichtssaal betreten habe, fest gestanden. Der Prozess sei eine Farce, eine zynische Lüge gewesen.
„Auch andere (Staaten) seien schuld an Hitlers Aufstieg“
Dieses insbesondere von Rolfe immer wieder vorgebrachte Argument, aufgeworfen an den Fragen der Zwangsterilisation, des Hitler-Stalin-Paktes, der Appeasement-Politik Frankreichs und Großbritanniens u.a.m., wird insbesondere im von Richter Haywood verlesenen Urteil als Scheinargument verworfen. Denn es könne nicht dazu führen, dass gegenüber den NS-Tätern, die nicht einfach einzelne Straftaten begangen, sondern an einem Unrechtssystem mitgearbeitet hätten, Milde angebracht sei.
„Wir müssen vergessen, damit wir eine Zukunft haben“
Frau Bertholt ist es, die diesen Satz gegenüber Richter Haywood äußert. Sie und vor allem auch der verbissene Angeklagte Emil Hahn, der aus seiner immer noch bestehenden NS-Überzeugung keinen Hehl macht, wollen damit nicht nur Milde in den Urteilen. Sie hoffen auf eine aktuelle politische Situation, die inzwischen eingetreten ist: den Beginn des „Kalten Krieges“, den die sich herausbildenden Blöcke des Westens und Ostens 1948 beginnen (Luftbrücke, Bizone usw.). Die Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht befürchten, durch zu harte Strafen gegen NS-Täter könne es schwierig werden, die westlichen Zonen, die nahende Bundesrepublik Deutschland, in die anstehende Systemauseinandersetzung mit der Sowjetunion zu integrieren. Vertreter der US-Besatzungsmacht versuchen sowohl Ankläger Lawson, als auch Richter Haywood in dieser Hinsicht zu beeinflussen. Vergeblich.
Das Urteil, das Haywood am Schluss verliest, hält sich eng an den Wortlaut des Urteils des tatsächlichen Juristenprozesses, wie es hier zu Anfang in einem entscheidenden Abschnitt zitiert wurde. In allen genannten Punkten ist „Judgment of Nuremberg“ ein besonders wichtiger und nicht nur Anfang der 60er Jahre bedeutender Film. Er ist zugleich ein Zeitdokument, das auf wesentliche Umstände und Probleme des Umgangs mit dem Nationalsozialismus und darüber hinaus mit Straftätern aus staatlichen Strukturen heute hinweist – und aus all diesen Gründen ist dieser Film auch heute noch aktuell.
Dazu bei trägt die in jeder Hinsicht hervorragende Besetzung. Spencer Tracy spielt einen durch und durch konservativen Richter, der allerdings nicht nur zu den Grundfesten eines demokratischen Rechtssystems steht, sondern zugleich auch demonstriert, dass die Prozesse nichts mit „Siegerjustiz“ zu tun hatten. Er lässt nicht nur den Ankläger, sondern auch den Verteidiger ausgiebig zu Wort kommen und verweist, wenn es sein muss, auch beide in die Schranken. Nur dadurch bekommt der Prozess auch seinen Sinn. Haywood selbst steht vor allem vor einem Problem: Er kann nicht begreifen, warum ein Mann wie Janning, der an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung mitgewirkt hatte, sich später in das Unrechtssystem integrierte.
Auch Maximilian Schell, der für seine Rolle einen Oscar erhielt, überzeugt durch die Darstellung eines Mannes, der nicht begreifen kann oder eher: nicht will, wie wichtig eine Verurteilung seines Mandanten ist, um auch den Millionen Opfern und ihren Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Burt Lancaster als Ex-Justizminister Janning verdeutlicht in seiner Darstellung einen Mann, der – trotz seines umfassenden Schuldeingeständnisses – nicht begreift, dass schon sein erstes Unrechtsurteil der Anfang vom Ende jeglicher Humanität war.
Richard Widmark verkörpert einen – anfangs als verbohrt und fanatisch wirkenden – Ankläger, der jedoch am Schluss als jemand da steht, ohne den solche Prozesse unmöglich gewesen wären. Er bleibt konsequent dabei, dass die Angeklagten um der Gerechtigkeit willen verurteilt werden müssten.
Auch Marlene Dietrich, Montgomery Clift und Judy Garland als Zeugin Irene Hoffmann sowie die Darsteller in den Nebenrollen machen „Judgment of Nuremberg“ zu einem tragischen Film und zugleich cineastischen Genuss.
(1) Vgl. dazu u.a.: „Politik als Verbrechen“. 40 Jahre Nürnberger Prozesse. Hrsg. von Martin Hirsch, Norman Paech, Gerhard Stuby, Hamburg 1986.
(2) Dass sich Angehörige des Staatsdienstes durchaus weigern konnten, sich am Unrechtssystem zu beteiligen, hat u.a. Ernst Klee am Beispiel von Erschießungskommandos in den baltischen Staaten nachgewiesen. Es hat nur kaum jemand getan. Vgl. Ernst Klee u.a. (Hrsg.): „Schöne Zeiten“. Judenmord aus Sicht der Täter und Gaffer. Frankfurt am Main 1988.