„... was es war? Der Fall eines
Meteoriten? Ein Besuch von
Bewohnern des menschlichen
Kosmos? Wie auch immer, in
unserem kleinen Land entstand
das Wunder aller Wunder –
die ZONE. Wir schickten sofort
Truppen hin. Sie kamen nicht
zurück. Da umzingelten wir die
ZONE mit Polizeikordons ...
und haben wahrscheinlich recht
daran getan ... im übrigen ...
ich weiß nicht ... ich weiß nicht ...“
(Aus einem Interview des
Nobelpreisträgers Professor
Wallace mit einem Korrespondenten
der RAI)
Nur langsam fährt die Kamera in einen Raum, als ob wir (mit ihr) eine Gemäldegalerie betreten würden. Eine kahle, körnige Wand in Grautönen, davor ein Bett, in dem drei Menschen liegen, schlafend. Man könnte sagen: Tarkowskij malt eine Familie. In diesen gemäldeähnlichen Bildern herrscht eine merkwürdige Spannung zwischen Ruhe, ja Frieden, etwas Bedrohlichem, das nur langsam Gestalt gewinnt, und etwas Mysteriösem – Geheimnisvollem, das sich durch den ganzen Film zieht, eine Art Grundströmung, oder eine starke Schwingung, die im Hintergrund permanent die Phantasie und das Denken beschäftigt. Wie eine Collage wirken diese Bilder, aber eine Collage, in der sich etwas bewegen kann und bewegt. Selbst wenn einer von den dreien die Augen bewegt oder einen Arm bleibt der Eindruck von etwas Gemaltem erhalten. Und vor allem herrscht in diesen Collagen immer und stets der widersprüchliche Eindruck von Leben und Verfall, von etwas Vergangenem, was einmal Glück oder Freude bedeutete, doch jetzt nur noch dem Untergang geweiht zu sein scheint.
Im Bett liegen ein Mann, seine Frau (Alissa Frejndlich) und seine Tochter (Natasha Abramova). Der Mann nennt sich „Der Stalker“. To stalk heißt sich an etwas oder jemanden heranpirschen. Der Stalker ist nicht auf der Pirsch wie ein Jäger oder Soldat, nicht einmal wie ein Polizist oder Detektiv. Der Stalker ist auf der Pirsch nach etwas, das ihn immer wieder anzieht, immer wieder seine Sehnsüchte weckt, seinen Lebenswillen erhält – und dafür war er schon im Gefängnis. Der Stalker betritt die verbotene ZONE, ein Gebiet das seit langer Zeit ein verbotener Raum ist, ein mysteriöser Raum, über dessen Entstehung es viele Theorien, aber keine Klarheit gibt. War es ein Meteorit, waren es Außerirdische, die ihn geschaffen haben? Keiner weiß das. Aber es gibt diesen Raum, die ZONE, die von starken Polizeikräften abgeschirmt und bewacht wird.
Der Stalker, den es immer wieder dorthin zieht, nimmt jedesmal andere mit in die ZONE. Es heißt, dort gebe es ein Zimmer, in dem sich die geheimsten Wünsche eines Menschen erfüllen würden. Seine Frau will nicht, dass er geht, aber sie kann ihn nicht hindern. Dieses Mal wollen ein Wissenschaftler, den alle nur Professor nennen (Nikolai Grinko), und ein Schriftsteller (Anatoli Solonizyn) in die ZONE. In einer Kneipe treffen sie sich und brechen mit dem Jeep auf. Mit knapper Not entkommen die drei den schießenden Polizisten und gelangen mit Hilfe einer Draisine in die ZONE.
Sie liegt abseits zerfallener Häuser, Fabrikhallen und verrostender Überbleibesel der industriellen Produktion. An dieser Stelle, dem Eintritt in die ZONE, wechselt der Film von Schwarz-Weiß auf Farbe. Auch in der ZONE liegen Zerfallsprodukte der Zivilisation en masse herum, aber hier bekommen die Bäume, Wiesen und Blumen Farbe. Man sieht, wie die Natur die Reste der Industrieanlagen und sonstiger Abfälle langsam, aber stetig überwuchert. Diese Fahrt mit der Draisine zeigt Tarkowskij minutenlang. Er zeigt immer das Gesicht einer der drei Personen zu den monotonen Klängen der Draisine (erzeugt mit einem auch ansonsten im Film eingesetzten Synthesizer). Dort angekommen geschehen merkwürdige Dinge. Aber geschehen sie wirklich oder sind sie nur Teil der Phantasie der Beteiligten? Der Stalker behauptet, man dürfe nur auf einem vorgeschriebenen Weg in der ZONE zu dem Raum gelangen, in dem die geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen. Die Verhältnisse in der ZONE würden sich ständig verändern. Er beschwört die anderen, der ZONE Ehrfurcht zu erweisen. Dem Schriftsteller ist das unwichtig, er will den kürzesten Weg nehmen – und wird von einer Stimme auf seinem eigenen Weg gestoppt: seiner eigenen Stimme. Die ZONE habe Fallen, meint der Stalker, und viele seien nicht zurückgekehrt, weil sie vom Weg abgewichen seien.
Der Professor, der heimlich umkehrt, um seinen Rucksack zu holen, kommt plötzlich vor den beiden anderen an einem Ort an. Die ZONE hat die drei wieder zusammengeführt. Der Stalker wirft ständig an einem Band befestigte Schraubenmuttern voraus, um zu erkennen, ob die ZONE den Weg frei gibt.
„Möge sich erfüllen, was begonnen
wurde. Mögen sie daran glauben und
ihre Leidenschaften verlachen. Denn
das, was sie Leidenschaften nennen,
ist in Wahrheit nicht seelische Kraft,
sondern die Reibung zwischen der
Seele und der äußeren Welt. Und
vor allem mögen sie an sich selbst
glauben und hilflos werden wie
Kinder.“ (Der Stalker)
„Stalker“ ist eine Art Trip, ein Seelentrip dreier unterschiedlicher Menschen durch eine geheimnisvolle Welt, von der nie ganz klar wird, ob sie die innere Welt der drei Männer repräsentiert oder tatsächlich existiert. Tarkowskij hebt die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt auf. Dabei bezieht er die Ideologien der Zivilisation, die sich in Relikten in den drei Männern aufbewahrt haben, in den von ihnen beschrittenen Weg ein. Während der Stalker ein vom Mysterium der ZONE Besessener, zugleich Verzweifelter ist, ein Individualist, der in der ZONE die einzige Form seines Lebens gefunden zu haben glaubt, weil sein sonstiges Leben nichts mehr für ihn zu bedeuten scheint, begleitet der Schriftsteller seinen Weg in die ZONE mit einer guten Portion Zynismus und Nihilismus – Ausdruck einer Kultur, die von sich selbst nichts mehr hält. Keiner interessiere sich für das, was er geschrieben habe; er sei unfähig geworden zu schreiben. Der Professor schließlich – enttäuscht von der Wissenschaft – will das Zimmer der geheimsten Wünsche zerstören. Ein Produkt dieser Wissenschaft, eine Bombe, soll dies bewerkstelligen. Die Vernunft gebiete es, das Zimmer zu zerstören, weil Machtbesessene es missbrauchen könnten. Und so maßt sich der Professor selbst an, was er bei anderen verhindern will. Aber der Schriftsteller und der Stalker hindern ihn daran.
Je näher die drei dem Zimmer – ebenso zerfallen wie alles andere innerhalb und außerhalb der ZONE – kommen, desto größer die Angst, dieses Zimmer zu betreten. Soll man es betreten, damit so aus den tiefsten Abgründen der eigenen Seele Wünsche werden? Der Stalker, der schon mehrfach hier war, hat das Zimmer nie betreten.
„Denn Schwäche ist etwas
Großes und Stärke gering. Wenn
der Mensch geboren wird, ist er
schwach und biegsam, wenn er
stirbt, ist er fest und hart. ...
Härte und Stärke sind Gefährten
des Todes, Biegsamkeit und Schwäche
bekunden die Frische des Seins.
Deshalb kann nicht siegen, wer
verhärtet ist.“ (Der Stalker)
„Stalker“ ist aber nicht nur ein „philosophischer“ Seelentrip. Die Reise der drei Männer ist in gewisser Weise ein erneuter Versuch der Aufklärung, des Drangs nach Erkenntnis, nach Wahrheit, nach Wahrhaftigkeit – nur eben an einem Punkt des Zivilisationsprozesses, an dem allen dreien klar geworden ist, wohin sie die Zivilisation geführt hat – ob sie es nun zugeben oder nicht. Die verrottenden, verrostenden und verfallenden Relikte der industriellen Produktion sind Zeugnis dieses Prozesses, die inzwischen von der Natur überlagert, ja überwuchert werden. Tarkowskij setzt auch in diesem Film die „Metaphern des Natürlichen“ konsequent und in wundervollen Bildkompositionen ein. Er zeigt beispielsweise einen Fisch im Wasser, umgeben von Blechdosen, einer Christusabbildung und Münzen sowie anderen zerfallenden Produkten. Langsam verschwindet der Fisch unter dem angeschwemmten Öl. Die Urelemente Wasser, Feuer und Erde sind für den Regisseur auch in diesem Film wichtiger Bestandteil der Inszenierung. Vor allem Wasser, fließendes Wasser, Wasserfälle, aber auch stehendes, vom Wind bewegtes Wasser als Ursprung des Lebendigen umgibt die drei Männer auf ihrem Weg. Das Lebendige und der Ursprung des Lebendigen setzen sich unaufhaltsam, gegen jeden Widerstand, durch.
„Stalker“ ist, neben Kubricks „2001: A Space Odyssee“ und Tarkowskijs „Solaris“, eine der drei außergewöhnlichsten filmischen Zivilisationskritiken. Aber „Stalker“ ist ebenso wie die beiden anderen Filme keine apokalyptische Beschreibung, keine rein negative Sicht. Gerade in den erstaunlichen Bildkompositionen, in der Darstellung des Wassers besonders, zeigt sich doch auch so etwas wie das Wunder des Lebens, etwas Wunderbares, ästhetisch Ansprechendes, trotz der immer wieder dargestellten Relikte des industriellen Zeitalters, die – gepaart mit den ideologischen Relikten, die drei Männer repräsentierten (Individualismus, Wissenschaftsgläubigkeit, Nihilismus) – eine Art Abrechnung mit dem 20. Jahrhundert darstellen. Diese Abrechnung hat jedoch nichts Absolutes, nichts endgültig Erklärendes, nichts von absoluter Wahrheit. „Stalker“ formuliert eher Fragen oder gibt Anlass, Fragen zu stellen. Tarkowskij vermeidet es auch, seine drei Protagonisten als Repräsentanten der „Täter“ des Industriezeitalters darzustellen. Sie sind zumindest genauso Opfer dieser Epoche auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, die sie weder in sich selbst, noch in ihrer Kultur, noch in der ZONE wirklich zu finden scheinen.
Vor allem aber: Trotz des vordergründig starken Individualismus des Stalkers ist er zugleich doch derjenige, in dem Tarkowskij sozusagen die letzte Hoffnung darstellt – einen Mann, der seinen Glauben bewahrt hat und der anderen Menschen helfen, ja ihnen dienen will. In ihm hat sich ein Individualismus bewahrt, der Freiheit nicht mit ausschließlichem und ausschließendem Egoismus verwechselt. Er steht für Religion und Natur, während die beiden anderen Kultur bzw. Aufklärung und Vernunft repräsentieren. So ähnelt der Stalker ein bisschen einem modernen Sisyphos, der sich immer wieder auf den Weg begibt, der seine innere Freiheit bewahrt hat und deswegen unbesiegbar ist. (1)
Wo ist diese Wahrhaftigkeit – nicht absolute Wahrheit – zu finden? In ihnen selbst? Außerhalb ihrer? Wieso sollten ihre Wünsche außerhalb ihrer selbst – in dem Zimmer der ZONE – zu finden sein, und wenn ja, was SIND ihre geheimsten Wünsche?
Alle drei kehren zurück, ohne das Zimmer betreten zu haben. Sind sie nun klüger? Haben sie Erkenntnis gefunden? Haben sie überhaupt bemerkt, wie sich die Natur all der Dinge langsam, aber stetig wieder bemächtigt, die ihr Zeitalter prägten und noch immer prägen? Für den Stalker ist die ZONE ein Mysterium, wie für die anderen, aber er achtet dieses Mysterium, er will die ZONE weder in Frage stellen, noch zerstören, noch in Zynismus ersticken.
Was wäre das Leben ohne Leid, fragt die Frau des Stalkers am Schluss – sie schaut dabei direkt in die Kamera, direkt auf uns. Ein Leben ohne Leid wäre auch ein Leben ohne Glück und Hoffnung. Die Frau des Stalkers liebt ihren Mann. Sie bringt ihn, der erschöpft ist, ins Bett, deckt ihn zu. Währenddessen sitzt beider Tochter, die keine Beine hat (möglicherweise ein Resultat radioaktiver Strahlung in der ZONE), an einem Tisch, stumm. Sie blickt auf drei Gläser, die auf dem Tisch stehen, und in einer Art Psychokinese bewegt sie diese Gegenstände. Ein Glas fällt herunter und zerbricht.
Gottes Wille? Die Kraft des freien Willens? Der Einfluss der ZONE? Stehen die drei Gläser für die drei Männer? Vielleicht ist diese Schlussszene eher Ausdruck des Mysteriums des Lebens, der Frage danach, wie wir etwas bewirken, was wir bewirken und was wir bewirken sollen. Vielleicht ist es auch die Frage nach dem Stellenwert von Liebe und Leidenschaft, wenn Stalkers Frau an einem Leben ohne Leid und damit ohne Glück und Hoffnung zweifelt. Vielleicht ist dies auch ein Rekurs Tarkowskijs auf die eigene (sowjetische) Gesellschaft, die sich gemäß ihrer Ideologie das absolute Glück aller auf die Fahnen schrieb und damit so viel Unglück produzierte (1982 musste Tarkowskij die UdSSR verlassen, u.a. wegen dieses Films). Vielleicht geht der Film aber auch darüber hinaus und zweifelt auch an anderen Glücksversprechen anderer zivilisierter Gesellschaften. Vielleicht. Bestimmt sogar.
(1) Tarkowskij selbst äußerte sich zum Hintergrund seiner Filme u.a. so:
„Uns alle charakterisiert heute ein geradezu unglaublicher Egoismus. Doch nicht etwa hierin liegt die Freiheit. Sie bedeutet vielmehr, dass wir endlich lernen müssen, nichts vom Leben oder unseren Mitmenschen, sondern nur von uns selbst etwas zu fordern. Freiheit – das ist das Bringen von Opfern im Namen der Liebe. (...) Mir kommt es so vor, als hätte der moderne Mensch in seinem Kampf für sicher recht wichtige politische Freiheiten jene Freiheit vergessen, über die die Menschen aller Zeiten verfügten – die Freiheit nämlich, sich selbst ihrer Zeit und Gesellschaft zum Opfer zu bringen.“ Dass diese Position nicht als (neoliberal) verbrämte Verzichtsideologie zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang seiner Filme selbst.
Aus: Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films; Ullstein Tb 35640; Ullstein Verlag, Berlin 1996.