Wer kennt sie nicht, die Cinderella-Story in allen möglichen Varianten. Aschenputtel – das war noch ein Märchen! Da gab es noch Gut und Böse, Schönheit und Hässlichkeit, Prinzen und verkappte Prinzessinnen, ohne dass die soziale (feudale) Struktur angetastet wurde, nein, im Gegenteil: Das Aschenputtel ergab sich seinem Schicksal, der Prinz ergab sich dem seinem, nein, nicht ganz. Denn er suchte das Reine, die Liebe schlechthin, die weibliche Verkörperung der reinen Liebe und nichts als der Liebe. Und so weichten die ach so klaren Fronten für eine kurze Zeit auf, hindurch schlüpfte das Aschenputtel, und die Welt war wieder mit sich im Reinen.
„Pretty woman, walkin' down the street. Pretty woman the kind I like to meet. Pretty woman I don't believe you, you're not the truth. No one could look as good as you---mercy“ (1)
Ganz so war auch dieses Märchen nicht. Denn wie fast alle Märchen handelt es auch vom Mut, einen Weg im Leben zu beschreiten, der so gar nicht konform und konformistisch ist. Die Liebe ist der Träger dieses Weges und zugleich die Belohnung.
„Pretty Woman“ ist in diesem Sinne eigentlich kein Aschenputtel-Remake, und ist es doch. Eine Prostituierte namens Vivian (Julia Roberts in der besten Rolle, in der ich sie je gesehen habe) trifft auf einen skrupellosen Geschäftsmann, den Workaholic Ed Lewis (Richard Gere, in der besten Rolle, in der ich ihn je gesehen habe, ihn, mit dem ich ansonsten so gar nichts anzufangen weiß), der Konzerne aufkauft und aus dem Verkauf ihrer Einzelfirmen mehr herausschlägt, als er für den jeweiligen Konzern gezahlt hat – die, die da arbeiten und möglicherweise ihre Arbeit verlieren, sind ihm egal. „It’s only business.“ Er gabelt sie auf, weil er den Weg nach Beverly Hills nicht findet, zahlt ihr zehn Dollar. Doch peu a peu beginnt der Wert dieser lebenslustigen, agilen, humorvollen und einfachen, sprich unkomplizierten Frau zu steigen: 3.000 Dollar für eine Woche. Lewis findet Gefallen an ihr, zunächst für eine Nacht, dann für eine Woche, nicht so sehr des Sexes wegen. Er bewundert diese Frau, er, der er sich an allen Konzerninhabern zu rächen scheint für Sünden seiner Eltern in der Vergangenheit, tatkräftig unterstützt von seinem Anwalt Stuckey (Jason Alexander). Sein nächstes Opfer ist der Industrielle Morse (Richard Bellamy), ein Kapitalist, der noch Verantwortung kennt für die, die für ihn schuften (behauptet der Film). In ihm findet Lewis die positive Vaterfigur – und beginnt zu zweifeln.
„Pretty woman won't you pardon me. Pretty woman I couldn't help but see. Pretty woman that you look lovely as can be. Are you lonely just like me“ (1)
Vivian begleitet Ed zum Essen mit Morse, in die Oper. Er kauft ihr Kleider, Schuhe, staffiert sie aus. Sie lernen sich kennen, kommen sich näher, und es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn die beiden nicht ein Paar werden. Sie werden.
Der Prototyp der modernen romantischen Komödie, den „Pretty Woman“ sicherlich darstellt, kommt ohne Dämlichkeit aus, ohne Schnörkel, ohne Albernheiten, ohne ausgelatschte Nebenpfade – das kann man mit Fug und Recht sagen. Aber der Film spielt im Herzen des Kapitalismus, des amerikanischen nämlich, zwischen all den Scheußlichkeiten des Geschäftslebens, hinunter dekliniert bis in Kleidergeschäfte, aus denen Vivian angesichts ihres „eindeutigen“ Aussehens hinaus komplimentiert wird. Und in den Nischen dieses Glanz und Glorias des Reichtums, vor allem aber im Hotel, in dem Vivian tatkräftig unterstützt wird von Hotelmanager Thompson (Hector Elizondo), der einen Narren an ihr gefressen hat, in diesem Hotel, in dem Ed mit Vivian, nein, nicht absteigt, nicht haust, sondern stilvoll lebt, leidet und liebt, entwickelt sich etwas abseits aller Gefühllosigkeit und Geschäftstätigkeit, Liebe eben, die sogar die Arbeit von Ed in ungeheurem Maße beeinflusst, bis dahin, dass er seine Absicht aufgibt, den Konzern von Morse zu verhackstücken. Einfach phantastisch!
„Pretty woman don't walk on by. Pretty woman don't make me cry. Pretty woman don't walk away, hey----OK. If that's the way it must be---OK. I guess I'll go on home, it's late. There'll be tomorrow night, but wait. What do I see? Is she walkin' back to me? Yeah, she's walkin' back to me. Oh, oh, pretty woman“ (1)
Und die romantische Komödie ist dann eben doch wieder Märchen, wenn plötzlich (einer von Marshalls Filmen hieß übrigens „Plötzlich Prinzessin“, 2001) Geld keine Rolle mehr zu spielen scheint, sondern nur noch Liebe. Vivian wartet auf ein Wort: Ich liebe dich (statt ich kaufe dich). Wir alle wissen, dass es am Schluss kommt – wie in jedem Film des Genres. Das Geld, viel Geld, wird zur Nebensache (deklariert). Aber wer hat eine romantische Komödie auch schon einmal in Slums spielen sehen? Kit (Laura San Giacomo), Vivians beste Freundin und ebenfalls Prostituierte, bekommt einen Teil des Geldes und Vivian selbst sowieso.
Genug gelästert. Wenn Julia Roberts an der Bar sitzt im schwarzem Abendkleid, uns und Richard Gere den Rücken zukehrt, er sie sucht, sie sich umdreht, er und wir entzückt sind, dann ist alles Geld und ist aller Schmäh vergessen. Selbst die rohen Seiten des Kapitalismus sind dann aus unseren Gedanken verbannt. Liebe pur, Reinheit pur, Wahrheit pur, Tränen sowieso pur. Hollywood wird es auf absehbare Zeit immer wieder gelingen, Liebe und Geld in heiliger Eintracht zu vereinen. Und wir werden es mit unseren romantischen Adern immer wieder schaffen, angesichts solcher Filme wie „Pretty Woman“ dahin zu schmelzen.
Pretty woman, walkin’ down the street.
(1) „Oh, Pretty Woman“, Text und Musik von Roy Orbison und Bill Dees