Musik, die durch Automaten erzeugt wird? Ein absurder Gedanke. Zunächst. Wenn man länger darüber nachdenkt, hat Musik aus Maschinen eine lange Tradition: Angefangen bei Drehleiern auf dem Jahrmarkt, über die Jukebox in der Kneipe nebenan, bis zu ausgefeiltem Sound-Design per PC - musikalische Maschinen kennen heute kaum noch Grenzen. Die Musikautomaten in dem surrealen Science-Fiction-Märchen „The Piano Tuner Of Earthquakes“ sind jedoch zu weitaus mehr fähig, als zu bloßer Unterhaltung.
Mit Hilfe von sieben bizarren Musikautomaten und der schönen Opernsängerin Malvina (Amira Casar, „Peindre Ou Faire L'Amour“) will der gescheiterte Komponist und Nervenarzt Emmanuel Droz (Gottfried John, „Berlin Alexanderplatz“) eine experimentelle Oper aufführen, um sich an der Musikwelt zu rächen. Auf dem Höhepunkt des Opus möchte der düstere Doktor seinen Geist mit Malvinas vereinen. Einen Tag vor ihrer Hochzeit tötet Droz die Sängerin, die er besessen liebt, auf mysteriöse Weise: Eben noch auf der Bühne, ein herzzerreißendes Liebeslied für ihren Verlobten Adolfo (Cesar Sarachu, „Institute Benjamenta, or This Dream People Call Human Life“) schmetternd, sinkt Malvina - vom böswilligen Blick des Doktor Droz getroffen – plötzlich in sich zusammen und ist tot. Droz entführt das Objekt seiner Obsession in eine abgeschiedene Villa. Dort belebt er Malvinas Körper wieder und versetzt sie in einen komatösen Zustand irgendwo zwischen Wirklichkeit und Traum. Geplagt von den Visionen der Vergangenheit und unfähig, die Gegenwart wirklich wahrzunehmen, wird die schöne Sängerin gefangen gehalten, bis alle Vorbereitungen für Droz' diabolischen Plan getroffen sind. Vorher sollen die Musikautomaten von Klavierstimmer Felisberto (ebenfalls gespielt von Cesar Sarachu) in Stand gesetzt werden. Als dieser sich in Malvina verliebt und sich entschließt sie zu retten, verliert er sich selbst im perversen Universum des Doktor Droz...
„The Piano Tuner Of Earthquakes“ ist ein opulentes Festmahl düsterer Bilder, das nicht für jeden Gaumen geeignet ist. Mehr bewegtes Gemälde im Stil von Caspar David Friedrich als echte Erzählung, wird dieser Film nur denen gefallen, die viel Sinn für Visuelles haben und wenig Wert auf Narration legen. Zwar hat der zweite Langfilm der Gebrüder Stephen und Timothy Quay, die bisher hauptsächlich animierte Kurzfilme drehten, eine Handlung. Diese verblasst jedoch hinter der bizarren Welt aus Vision und Wirklichkeit, die in ihrer abstrusen Bildgewalt an David Lynchs Eraserhead erinnert: Pechschwarze Bäume reihen sich aneinander zu einem dämonischen Zauberwald. Das Schloss des verrückten Nervenarztes – wie eine Fata Morgana nur durch glänzenden Nebel zu sehen. Das Gefühl, wie in einem filmischen Spiegelkabinett durch die schauerlicher Schönheit eines Edgar-Allan-Poe-Romans zu irren, wird vor allem durch exzessiven Einsatz von Weichzeichnern und stimmungsverändernden Farbfiltern erzeugt. Durch diese Verfremdung und die schnelle Bildabfolge hat der Zuschauer manchmal kaum eine Chance, das Gesehene wirklich zu erfassen. Gerade das macht „The Piano Tuner Of Earthquakes“ so faszinierend: das Unbekannte. Die meisten Science Fiction-Filme verfahren nach dem Prinzip „Schneller, höher, weiter“. Sie kreieren immer gefährlichere Kampfroboter und bis in die kleinsten Details perfekt animierte Monster. Wo bleibt da die Fantasie? In Filmen wie „The Piano Tuner Of Earthquakes“! Denn nur das Unbekannte bleibt auf ewig faszinierend, kann es doch per Definition nie enträtselt werden.
Etwas rätselhaft ist auch die zyklisch angelegte Bildabfolge von „The Piano Tuner Of Earthquakes“. Manche Sequenzen wirken zunächst zusammenhanglos. Ähnlich wie das Thema einer Oper in verschiedenen Variationen wird das Gezeigte dann wiederholt und in einen anderen Zusammenhang gestellt. Nicht nur von Musik, sondern vor allem von Romanen und Historie lassen sich die Quay-Brüder bei ihren Filmen inspirieren. „The Piano Tuner Of Earthquakes“ beruht zum Teil auf der Geschichte „Das Schloss in den Karpaten“ von Jules Vernes: Eine schöne Opernsängerin wird auf ein Schloss in den Karpaten entführt und dort missbraucht. Als ihr Geliebter sie dort gefunden zu haben glaubt, muss er erkennen, dass nur noch eine Projektion auf Glas von ihr übrig ist. Der Name des Schurken „Droz“ ist passender Weise von einem erfolgreichen Automatenhersteller aus dem 18. Jahrhundert entliehen.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Inspirationen werden wir mit einem Zitat am Anfang des Films daran erinnert, dass wir uns jenseits der realen Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten befinden: „Diese Dinge geschehen nie, sind aber immer (Sallust).“ Selten ist man sich sicher, ob gerade der Traum einer Figur gezeigt wird oder die handelnden Figuren des Films. Ein bisschen Orientierung im Orkan von Bildern bietet das Tagebuch schreiben des Klavierstimmers Felisberto. Er berichtet uns, wie die Figuren in Bram Stoker´s Dracula, von den seltsamen Ereignissen und Träumen, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen: „It feels like I'm living in someone else's imagination“, lässt Felisberto uns zu Ende des Films wissen. Auch wir können uns des Gedankens nicht erwehren, im Kopf eines verrückten Wanderers im Stile von Georg Büchners Lenz gefangen zu sein.
Die Verschmelzung von Animationsfilm, realen Schauspielern und Puppenspiel ist ingesamt gelungen, hat aber für die Schauspieler den Nachteil, dass sie nicht viel mehr als Statisten sind, die dem Bildfeuerwerk einen gewissen Sinn geben. Gottfried Johns Figur Dr. Droz hat in den ersten Minuten genau dieselbe Wirkung, wie in den letzten. Eine charakterliche Entwicklung findet nicht statt. John verkörpert den Bösewicht zwar glaubhaft, aber die schillernde Schlechtigkeit eines Graf Dracula kann er seiner Figur nicht verleihen.
Fazit: Eine Melange aus Caspar David Friedrichs Gemälden und Edgar Allan Poes Schauergeschichten türmt sich vor den Augen des Zuschauers zu einem operesk-dramatischen Spektakel auf. Wer bei dieser Mischung ausrufen möchte: „Surreal aber schön!“, kann sich in „The Piano Tuner Of Earthquakes“ in ein phantastisches Bilder-Labyrinth entführen lassen. Für alle anderen ist dieser Film ein trojanisches Pferd ohne Armee: außen schön, innen hohl.