If I show weakness, I'm dead. They will take me out, they will decapitate me, they will chop me up into bits and pieces - I'm dead. So far, I persevere. I persevere.[1]
Werner Herzog ist wieder da – dabei war der Arthouse-Starregisseur eigentlich nie weg vom Fenster. Doch die gebührende Aufmerksamkeit erlangte der Exzentriker erst durch seine gefeierte Dokumentation „Grizzly Man“ zurück - sechs Jahre nach seiner künstlerischen Wiederauferstehung Mein liebster Feind. Die Crux: Es ist bezeichnend und beschämend zugleich, dass das brillante, vielfach ausgezeichnete Meisterwerk in Herzogs Heimat Deutschland keinen Kino-Verleih gefunden hat. Während der Münchner vor allem in den USA und Frankreich glühend verehrt wird, lässt seine Anerkennung im eigenen Land zu wünschen übrig.
Wer die Klassifizierung „Dokumentation“ liest, wird gegebenenfalls ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken können. Doch dieses Genre erlebte durch verschiedenste Einflüsse, teils sehr gute Qualität und Innovationen eine Renaissance, die die Menschen wieder ins Kino lockte. Diesen Trend setzt der Film konsequent fort. Aber Vorsicht: Es handelt sich schließlich um einen Werner-Herzog-Film - und seine Fans wissen, was das bedeutet. „Grizzly Man“ ist natürlich keine „normale“ Dokumentation. Genau genommen ist das Werk drei Filme in einem. Zum einen eine abgründige Charakterstudie über das Leben und den Tod des manischen Bären- und Naturschützers Timothy Treadwell, der im Oktober 2003 zusammen mit seiner Freundin Amie Huguenard von einem Bären gefressen wurde. Zum anderen ist „Grizzly Man“ eine wunderschöne Natur- und Tierdokumentation, die atemberaubende Bilder und nie da gewesene Momente zwischen Mensch und Tier zeigt. Die dritte Ebene ist die für Herzog bekannte Selbstreflexion, die den Zuschauern einen Einblick in das Seelenleben des Regisseurs gibt.
13 Sommer hintereinander verbrachte Treadwell in Alaskas Katmai Nationalpark unter seinen über alles geliebten Freunden, den Bären. Die letzten fünf Jahre dokumentierte er mit einer Videokamera. Diese 100 Stunden Rohmaterial fielen Werner Herzog in die Hände, der die Bilder ergänzte, Zeitzeugen, Freunde und Gegner zu Wort kommen lässt. Treadwell wollte die Tiere beschützen, obwohl er sich der permanenten Lebensgefahr durchaus bewusst war. Er wäre am liebsten selbst zum Bären geworden, nahm ihr Verhalten an und sah sich so geschützt und gegenüber Angriffen gewappnet. Der Exzentriker und Ex-Trinker, bei dem ein Arzt eine manische Depression diagnostiziert hat, war in seiner Verhaltensweise vordergründig verrückt, teils gar wirr im Kopf. Seine Liebe für diese Tiere, denen er ständig „I love you’s“ und Handküsse nachwarf, nahm groteske Züge an. In einer Szene kauert er über den Exkrementen einer Bärin, tätschelt diese. „It was just inside her... it’s still warm”, jubiliert Treadwell aufgeregt, wie ein kleines Kind auf Ecstasy. Diese Manie zeigt sich auch, als er eine üble Schimpfkanonade über die Unfähigkeit der US-Regierung im Umwelt- und Tierschutz in die Kamera brüllt oder Gott anfleht, Regen zu schicken, um die Bäche für den Zug der Lachse zu füllen, damit die Bären etwas zu fressen bekommen [2]. Ein kompletter Irrer war Treadwell („I’m a kind warrior“) aber keineswegs. Er ging auf Vortragsreisen, um über seine Aktivitäten zu berichten, gründete die Schutzorganisation „Grizzly People“ und wurde von seinen Freunden als warmherzig geschätzt. Manchmal wirkt er wie ein Guru, der seine Jünger um sich versammelt. Ein außergewöhnliches Charisma ist ihm nicht abzusprechen.
Wie schräg die Figur Treadwell ist, dokumentiert auch eine weitere Anekdote. Zeitlebens behauptete er - der stets mit Sonnenbrille, blonder Prinz-Eisenherz-Frisur und Kopfbedeckung zu sehen ist - aus Australien zu stammen, was er durch einen gefakten australischen Akzent untermauerte. In Wahrheit stammt Treadwell aus Long Island, New York. In den USA erlangte er als Bärenmann sogar in den 90ern sowie 2000ern eine gewisse Berühmtheit und schaffte es bis in die Talkshow von David Letterman. Damals lachte das Publikum noch, als Letterman fragte: „Müssen wir eines Tages in der Zeitung lesen, dass sie von einem Bären gefressen wurden?“ Die Realität war leider noch grausamer. Treadwell und tragischerweise auch seine Freundin Amie Huguenard, die sich vor den gefährlichen Raubtieren fürchtete, wurden von einem ihnen unbekannten durchziehenden Bären gefressen - ihr Todeskampf dauerte sechs Minuten. Am folgenden Tag musste der Bär getötet werden - das wäre das letzte, was Treadwell gewollt hätte („I will die for these animals, I will die for these animals, I will die for these animals“). Aus dem Körper des Tieres holten die Veterinäre mehrere Plastiksäcke voll Menschenteile. Tragisch-ironisch: Treadwell und Huguenard sind die einzigen Personen, die jemals in dem Naturschutzgebiet von Bären getötet wurden.
Treadwell hatte die Kamera während der tödlichen Attacke laufen, allerdings mit aufgesetzter Objektivkappe, so dass nur Tonaufnahmen existieren. An dieser Stelle macht Herzog das Richtige und entscheidet sich dafür, dieses schockierende Dokument nicht direkt zu bringen. Er lässt andere darüber in Worten berichten und erhöht dadurch die Wirkung, während er gleichfalls dem Vorwurf des Sensations-Voyeurismus aus dem Weg geht. Als ob das alles nicht schon tragisch genug wäre, überhöhen die Umstände des Todes der beiden die Szenerie noch einmal. Treadwell und Huguenard sollten eigentlich gar nicht mehr vor Ort sein, nur weil sich der Narzist mit einem Mitarbeiter der Fluglinie in die Haare kriegte, musste das Paar auf einen späteren Flug warten und ins Camp zurückkehren.
„I have seen this madness on a movie set before. I have seen human ecstasies and darkest human turmoil”, erklärt Herzog, der den englischen Off-Kommentar in seinem unnachahmlichen fatalistischen Tonfall spricht, seine Motivation, „Grizzly Man“ zu drehen. Und jeder Herzog-Kenner wird sofort bemerken, was den Filmemacher faszinierte. Dieser Wahnsinn, den Herzogs einst selbst kenn- und auszeichnete, ist es, der ihn angezogen hat an der Geschichte. Auch wenn Herzog, Jahrgang 1942, älter und ruhiger geworden ist, bleibt seine unbändige Energie bestehen. Er ist sicher nicht mehr der bedingungslose, gnadenlose Berserker früherer Tage, aber immer noch ein Perfektionist, der jedes noch so winzige Details unter Kontrolle hat.
Der Regisseur beleuchtet alle Seiten, doch seine stille Sympathie für den Sonderling ist unübersehbar, auch wenn er dessen Passion nicht teilt oder gar versteht. Herzog fügt die verschiedenen Puzzlestücke seiner Doku grandios zusammen, so dass „Grizzly Man“ als homogene, aber vielschichtige Einheit aus spektakulären Schauwerten, tiefgründiger Charakterstudie und herzzerreißender Tragik funktioniert: eine Betrachtung des Wahnsinns, über Leben auf Messers Schneide, über die Urkraft der Natur, über ihre Grausamkeit und über ihre Schönheit. Majestätische Aufnahmen verbinden sich mit berührenden Momenten und prallen auf nüchternen Zynismus von Menschen, die denken, dass Treadwell das bekommen hat, was er verdient. „Grizzly Man“ ist packend, außergewöhnlich, innovativ und von brillanter Struktur, die mehrere Ebenen bedient. Reihenweise Auszeichnungen von amerikanischen Kritikerverbänden und zahlreiche Preise bei Festivals sind der verdiente Lohn für Herzog. Nur in Deutschland lagen die Verleiher leider im gesegneten Tiefschlaf und enthielten dieses meisterhafte Stück Kino dem Publikum seit seiner Premiere im Januar 2005 in Sundance vor - bis sich Ufa erbarmte und den Titel wenigstens auf DVD in Deutschland herausbrachte.
[1] Timothy Treadwells Monolog zu Beginn des Films.
[2] Treadwell fleht um Hilfe für die hungrigen Bären: „I want rain. I want, if there's a God, to kick some ass down here. Let's have some water! Jesus boy! Let's have some water! Christ man or Allah or Hindu floaty thing! Let's have some fucking water for these animals!”