[...]"39,90" lässt sich am ehesten als eine im Milieu der Werbebranche angesiedelte Mischung aus Danny Boyles "Trainspotting" und Oliver Stones "Natural Born Killers" beschreiben. Ihnen ähnlich ist die ausladende,hip-verspielte und sich oftmals in ihrem Ideenreichtum nahezu überschlagende Regie Kounens,mit der er hier zu Werke geht.Mit unzähligen filmischen Stilmitteln wie Rückblenden, Alternativhandlungen, Schwarz-Weiß- oder Zeichentrick-Bildern, Animationen und Comicstrips, serviert in schnell geschnittener Videoclip-Ästhetik und garniert mit vorzüglicher Musik (darunter treffsichere Referenzen an "Spiel mir das Lied vom Tod", "In the Mood for Love" oder"The Mission") sorgt der ehemalige Musikvideo-Regisseur für ein visuelles Feuerwerk,dass jedoch seine offenkundig politische Ambition und Botschaft nicht erdrückt.Vielmehr zeichnet Kounen mit selbigem eine reichlich abgründige Welt der Oberflächlichkeiten,des Konsums und der Skrupellosigkeit. Die ihr innewohnenden Protagonisten sind völlig abgehobene,verantwortungslose Subjekte,durchgehend nur auf ihren eigenen Vorteil,die nächste Mode oder Prise Koks aus.Bisweilen grotesk präsentiert Kounen die Mechanismen hinter dem imposanten Produktionsapparat der Werbung,die unverschämte soziologische Reduzierung der Zielgruppen und ihrer "Bedürfnisse",die köstlich-absurden Planungen und Meetings der Werbeclips oder ihre im Hinblick auf die dort tatsächlich relevanten Faktoren einfach nur grenzbescheuerten Drehs.
[...][Die Figur des Octave ist] allerdings auch die einzige ernstzunehmende,psychologisch genauer beleuchtete Figur des Films,alle anderen sind Abziehbilder ökonomischer Menschmaschinen ohne Tiefe: Der wenig reflektierende,naiv-bescheuerte Kumpel der Hauptfigur,der menschlich völlig überforderte erbarmungswürdige Vorgesetzte,die sich hochschlafende Schauspielerin und der machtgeil-mafiöse Big Boss des Unternehmens. Selbiges Kounen zum Vorwurf zu machen,greift jedoch möglicherweise zu kurz,denn auch hier liegt eine klare - wenngleich etwas plakative - Aussage des Regisseurs: Bis auf Octave reduziert er seine Protagonisten auf ähnlich oberflächliche Stereotypen,wie sie die Verantwortlichen der Werbeindustrie tagtäglich zur Eingrenzung ihrer Zielgruppen nutzen.
Dreh- und Angelpunkt des Films bleibt freilich Kounens erwähnte formale Ausgestaltung des Films,seine Stilistik,die jedoch nicht nur aus ästhetischen Gründen existiert.Sie bedient sich nicht zufällig genau der gleichen Bildsprache und Mittel der uns täglich konfrontierenden Werbeclips und -plakate.Indem sie an zwei Stellen - Octaves Aufenthalt in der Entzugsklinik und der Aussteiger-Epilog in herrlich kitschiger Südsee-Traumkulisse - mit überraschend ruhigen,fast elegischen Einstellungen konterkariert und damit nicht nur Octave,sondern auch den Zuschauer nach der überbordernden Visualität quasi "auf den Boden zurückholt",wird eine elementare Aussage des Films deutlich: Die auf grenzenlose (Über-)Forderung der Sinne setzende Semiotik heutiger Werbung ist uns allen schon so sehr angewöhnt,dass wir sie praktisch schon in die Sehgewohnheiten unseres Alltags integriert haben und so dafür sorgen,dass sie sich uns in einer Endlosschleife jeden Tag aufs Neue anbieten darf.
Die Spitze des Eisberges stellt das Anfangs- und Schlussbild dar: Jenes uns das Paradies versprechende Werbebanner,in welches sich das zuerst wie ein grausig-kitschiges Aussteiger-Happy-End aussehende scheinbare Endbild verwandelt,verdeutlicht,wie selbst (gelebte?) Utopien und Weltverbesserungsideen am Ende nur als weitere Vermarktungsplattform verwertet und verwurschtet werden. Hier macht sich Kounen [...] nahezu über die Gruppen jener linker Intellektueller lustig,zu der er eigentlich selber zählt. Es gilt: Die Werbung in ihrer heutigen unerträglichen und teils verantwortungslosen Form ist immer nur - genau wie die oftmals verwünschte Wirtschafts- und Konsumlandschaft des kapitalistischen Weltsystems - Antwort auf die menschlichen Befürfnisse unserer Zeit,ob singulärer oder kollektiver Art.Dementsprechend ist Werbung ein nie festgesetzter,sondern sich beständig weiterentwickelnder und anpassender Prozess,dessen handwerkliche Mittel sich aus der gesellschaftlichen Kultur speisen,in ästhetischer Hinsicht etwa aus denen der Popkultur,was "39,90" wie bereits erwähnt eindrucksvoll darstellt.[...]FAZIT: Auch wenn man sich beizeiten noch etwas mehr Biss und Witz gewünscht hätte..."39,90" ist eine ausgesprochen unterhaltsame und sehr kluge Satire über die Werbebranche geworden,grandios inszeniert und clever durchdacht.