In vielerlei Hinsicht könnte man Edgardo Cozarinskys Drama „Der Nachtschwärmer“ als nächtliche Variante von Jean-Pierre Jeunets Die fabelhafte Welt der Amelie bezeichnen. Wo Jeunets Meisterwerk eine farbige Liebeserklärung an Paris war, zeichnet Cozarinsky ein düsteres, aber nicht minder magisches Bild der verarmten Metropole Buenos Aires. Wo Amelie meist absurden, zauberhaft überhöhten Figuren begegnete, sind Victors Begegnungen auf ein Minimum reduziert, wirken wie nur schemenhafte Geister. Wo die surrealen Elemente in Die fabelhafte Welt der Amelie das Schöne in der Welt unterstrichen, beschäftigen sie sich in „Der Nachtschwärmer“ meist mit Ängsten oder dem Tod. Und wo Audrey Tautou ein niedliches Mimik-Feuerwerk abschoss, beschränkt sich Gonzalo Heredia auf nur wenige Gefühlsregungen – und bei denen weiß man dann noch nicht einmal, ob sie wahr oder nur für seine Freier gespielt sind.
„Der Nachschwärmer“ erzählt von einer einzigen Nacht in Buenos Aires, in der der 19-jährige Victor (Gonzalo Heredia) sich als Stricher und Dealer über Wasser zu halten versucht. In der Stadt, die niemals schläft, lebt Viktor von Tag zu Tag, ohne jemals ein Gefühl von Sicherheit zu erfahren. Nur ein korrupter Kommissar (Gregory Dayton), der Victors Dienste zwei Mal die Woche ohne dafür zu bezahlen in Anspruch nimmt, bietet ihm ein klein wenig Geborgenheit und Schutz. In dieser Nacht, es ist Allerheiligen, begegnet Victor aber nicht nur seinen Kunden, sondern auch seiner Vergangenheit. So trifft er zum Beispiel den Taxifahrer Mario (Rafael Ferro), einen alten Freund, den er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat und der ihn nun nach ein paar gemeinsamen Stunden in einem Hotel umzubringen versucht. Oder der schönen Cecilia (Moro Anghileri), die Victor damit konfrontiert, dass sie einst, als sie noch auf dem Dorf lebten, ihr gemeinsames Baby abtreiben musste. Aber wie die Legende besagt, kehren die Toten an Allerheiligen auf die Erde zurück, um all diejenigen mitzunehmen, die sie zu Lebzeiten liebten…
In den ersten Momenten des Films, wenn man einigen Obdachlosen beim Müllsammeln in den belebten Straßen Buenos Aires' zusieht, wirken Cozarinskys Bilder fast dokumentarisch, wenn auch trotzdem wunderschön. Aber schon wenn die Kamera zum ersten Mal die Stricher und die aus ihren Autos gaffenden Freier einfängt, deutet „Der Nachtschwärmer“ seine märchenhaften Absichten vorsichtig an. Statt betroffener oder gar trauriger Musik darf der Zuschauer einem recht fröhlichen Stück lauschen. Und je weiter die Nacht voranschreitet, desto zahlreicher, aber auch düsterer werden die überirdischen Elemente, die einen, auch wenn man die Richtung des Films schnell durchschaut hat, jedes Mal wieder überraschen. So beobachtet Victor zum Beispiel sehnsüchtig ein sich zärtlich küssendes Liebespaar an einer Ampel, bis die Frau den Mann ohne Vorwarnung vor einen heranrollenden Lastwagen schupst – der Mann ist sofort tot, die Frau schleicht langsam davon. Das Schöne an dieser zunächst verwirrenden Szene ist, dass sie nie wieder wirklich aufgegriffen wird, ihr Sinn sich dem Zuschauer aber trotzdem erst nach und nach im Verlauf der Nacht vollständig erschließt. Und dieses langsame, geheimnisvolle Sich-Entwickeln ist es auch, was den ganzen Film so besonders macht.
„Der Nachtschwärmer“ hat zwei aufregende Hauptdarsteller. Zum einen Gonzalo Heredia als Victor, der zwar absolut sympathisch rüberkommt, bei dem man sich aber auch nie sicher sein kann, ob man ihn wirklich durchschaut. Erst am Ende der Nacht kann der Zuschauer Victor zwischen seiner lebensbejahenden Offenheit und seinen tiefsitzenden Existenzängsten ernsthaft einschätzen. Zum anderen Buenos Aires, das Cozarinsky lebendig und pulsierend wie selten einzufangen versteht. Dabei dienen vor allem die obdachlosen Müllsammler als roter Faden, die hier aber nicht wie sooft als bedauernswert oder mitleiderregend, sondern als spannende Gegenkultur dargestellt werden – dabei macht Cozarinsky auf der anderen Seite aber auch nicht den Fehler, ein romantisch verklärtes Bild der Armut abzuliefern, sondern bleibt trotz der positiven Perspektive angemessen kritisch. Ihr übriges tun die unterschiedlichsten Orte, an die es Victor in dieser Nacht verschlägt. Von einem Luxushotel, wo er zur Privatparty eines Botschafters eingeladen ist, bis zum Straßenstrich, wo sich Victor und Mario einen Spaß daraus machen, mit den Nutten zu flirten, ist alles dabei und verschwimmt durch die wunderbar fließende Stimmung immer mehr miteinander, bis nur noch ein gigantischer, düsterer, aber auch magischer Moloch übrig bleibt.
„Der Nachschwärmer“ ist ein toller Film, der mehr von seiner Stimmung und seiner Atmosphäre lebt als von seiner Geschichte. Auch sollte man nicht den Fehler machen, den Film als reines Gay-Genre-Kino, das mit Filmen wie Dummer Junge oder „Loggerheads“ gerade eine neue Hochzeit erfährt, abzutun. Vielmehr haben Victors Ängste mit dem Schwulsein sogar recht wenig zu tun, sondern sind so universal, dass zumindest jeder Großstädter – wahrscheinlich sogar überhaupt jeder – unter uns sich zumindest zum Teil in ihnen wieder erkennen wird. So ist „Der Nachtschwärmer“ nicht nur filmisch gelungen und atmosphärisch brillant, sondern liefert auch noch einen aufregenden Beitrag zu Themen wie Verlorenheit und Einsamkeit.