Mit dem 1974 gedrehten Roadmovie „Alice in den Städten" fand Wim Wenders zu seinem eigenen Stil. Der in Schwarzweiß gedrehte Film markierte jedoch nicht nur Wenders persönlichen künstlerischen Durchbruch, sondern machte ihn zugleich zu einer der großen Hoffnungen des Europäischen Films. Auch „Alice in den Städten" stellt das immer wiederkehrende Thema von Wenders gesamtem Werk, das Hin- und Hergerissensein zwischen dem Hier und Jetzt und der meist undefinierten Ferne, in den Mittelpunkt. Häufig ist Amerika das Ziel einer sehnsüchtigen Suche, doch in „Alice in den Städten" ist es die Rückkehr nach Deutschland, die zur Entdeckung einer verlorenen geglaubten Identität führt.
Der Journalist Philip Winter (Rüdiger Vogler) wurde von einem deutschen Magazin beauftragt, eine Reportage über verschiedene Regionen der USA zu schreiben. Doch bei seiner Reise durch den amerikanischen Kontinent erscheinen ihm dort alle Orte gleich und letztlich austauschbar. Seine Eindrücke kann er nicht in Worte fassen und hält sie stattdessen auf Polaroid-Fotos fest. Nach der mehrwöchigen Reise tritt er schließlich völlig ausgebrannt seinen Rückflug an. Auf dem New Yorker Kennedy-Flughafen begegnet der Journalist Lisa van Damm (Lisa Kreuzer) und deren neunjähriger Tochter Alice (Yella Rotländer). Aufgrund eines Fluglotsen-Streiks in Deutschland können die Drei nur über Amsterdam nach Deutschland zurückfliegen, wo Lisa noch eine Beziehungsangelegenheit klären möchte. Sie bittet Winter, ihre Tochter nach Holland zu begleiten. Sie plant einige Tage später nachzukommen. Doch als Winter und Alice in Amsterdam angekommen sind, lässt die Mutter nichts mehr von sich hören. Widerwillig macht sich Winter zusammen mit Alice auf die Suche nach der Großmutter des kleinen Mädchens, die irgendwo in Deutschland lebt. Problematisch wird die Reise, als Winter klar wird, dass Alice weder weiß wie ihre Oma heißt, noch eine Adresse oder einen ungefähren Wohnort kennt.
„Alice in den Städten" ist filmische Poesie bei der die greif- und sichtbare Reise des Journalisten Philip Winter dessen innere Suche nach sich selbst spiegelt. Die Bilder des Films sind somit nicht dokumentarisch, sondern viel mehr Ausdruck von Gefühlen, die die innere Verfassung des Protagonisten zeigen. Es sind die verschiedenen Orte und Begegnungen, die den Journalisten langsam verändern zu scheinen. So berichtet Winter über seinen USA-Trip: „Solch eine Reise macht ja etwas mit einem". Das, was dieser Amerikaaufenthalt mit ihm macht, äußert sich zunächst in einer massiven Identitätskrise, die dann in eine totale Schreibblockade mündet. Die ersten Minuten des Films bestehen aus einer unkommentierten Aneinanderreihung verschiedenster Eindrücke, die Winter auf seiner Rückreise nach New York sammelt: Endlose Autofahrten, die immer gleichen Motels mit den gleichen uninteressanten Fernsehprogrammen und auch die Menschen – alles scheint austauschbar. Die Kombination aus enormer Weite und der erschreckenden Gleichförmigkeit, die in Winters Augen das Wesen der USA treffend beschreibt, führt zur Leere in seinem Inneren, die sich immer weiter ausbreitet und ihn auszulöschen droht. Ihren Höhepunkt findet das Gefühl von Bedeutungslosigkeit, als er vor der New Yorker Vertretung seines Verlages mit leeren Händen auftaucht und trotz allem um einen finanziellen Vorschuss bitten muss.
New York ist der Nullpunkt seiner Reise, aber entpuppt sich gleichzeitig ein Neubeginn. Hier begegnet er Lisa, die Interesse an ihm zeigt. Sie will jedoch lediglich bei ihm, niemals mit ihm schlafen. Doch erst durch die, ihm aufgezwungene, Rolle des Aufpassers von Alice die er letztlich verantwortungsbewusst ausführt, wird der langsame Prozess der Selbstfindung in Gang gesetzt. So sehr sich Winter anfangs gegen die Aufgaben eines Ersatzvaters sträubt, merkt er im Verlaufe seiner Odyssee durch Deutschland, wie gut es ihm tut, für jemanden da zu sein. Mehr und mehr wird die anfangs ärgerliche Irrfahrt zu einer Reise zu den eigenen Wurzeln. Seine in Amerika verlorene Identität erwacht wieder zum Leben und langsam wird aus dem mürrischen Eigenbrötler und Egoisten ein umgänglicher Mensch. Sein wahres Ich wird nicht mehr definiert durch das Abkapseln von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen, sondern entfaltet sich indem er sich öffnet und ein Miteinander zulässt. Am Ende hat er nicht nur seine Schreibblockade überwunden, sondern sieht auch seine Reise in die Ferne mit anderen, wachen Augen. In der unendlichen Weite Amerikas hat er bei einem seiner zahllosen Motel-Aufenthalte gelangweilt einen Film von John Ford im Fernsehen gesehen. In Deutschland angekommen, erweckt die Nachricht vom Tod des Regisseurs sein unmittelbares und mitfühlendes Interesse. Erst die Reise durch Deutschland - seine Heimat – sind auch die Vereinigten Staate, auf der anderen Seite der Erde, zu einem Teil seines Lebens und seiner persönlichen Entwicklung geworden.
Fazit: „Alice in den Städten" ist ein Roadmovie von Wim Wenders, das nicht durch Action, sondern durch sanfte Poesie und zarten Humor besticht. Der Film zeigt eindrucksvoll, was entsteht, wenn sich die, oft zu Unrecht propagierte, deutsche Unbeweglichkeit auf eine Reise begibt: ein Roadmovie mit völlig neuen Facetten.