Es ist so befreiend in deutschen Kinos endlich mal wieder ein Melodram zu sehen - und noch dazu eines, dass sich nicht um Realismus bemüht, sondern seinen Figuren, den Darstellern und letztendlich dem Zuschauer, Exzesse bis zum Anschlag zumutet. Natürlich war dies nur von einem zu erwarten, denn er ist einfach herrlich, dieser Oskar Roehler, der in seinem neuen Film „Agnes und seine Brüder“ frei Schnauze seine Charaktere in ihre tiefsten Abgründe wirft und dann, wenn man meint, jetzt sei es aber genug, zieht er die Schrauben noch ein bisschen weiter an und reißt auch den Zuschauer unerbittlich mit in den Abgrund. Da wo andere Filme aufhören, beginnt Roehler eigentlich erst seine Reise und die ist genauso schmutzig, dreist und gnadenlos, wie liebevoll und herzzerreißend.
Erzählt wird die Geschichte dreier Geschwister, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist der Bibliothekar Hans-Jörg (Moritz Beibtreu), ein Pullundertragender, sexsüchtiger Gelegenheitsalkoholiker mit Stofftaschentuch in der grauen Hose, der bei seiner Arbeit nur Augen für bauchfreie Studentinnen hat und in Damentoiletten selbigen durch ein kleines Loch in der Wand nachspioniert. Einmal in der Woche besucht er eine Selbsthilfegruppe, wo sich einsame Männer gegenseitig ihre sexuellen Neigungen beichten. Doch alles, was Hans-Jörg eigentlich will, ist eine feste Freundin. Dann gibt es noch Werner (Herbert Knaup), einen Politiker der Grünen, der sich im Kampf um das europäische Dosenpfand befindet sowie um die längst abgestorbene Liebe seiner Frau Signe (Katja Riemann), die selbst eigentlich nur weg will und sich mit ihrem Sohn (Tom Schilling), in einer merkwürdig engen Mutter-Sohn-Beziehung, gegen den Vater verbündet hat. Die Titelheldin Agnes (Martin Weiß), die früher ein Mann war und sich wegen einer großen Liebe in New York hat umoperieren lassen, arbeitet in Nachtclubs als Tänzerin und wird von ihrem Freund auf die Straße gesetzt. Über allen dreien schwebt, wie in so mancher Familiengeschichte, der große Schatten der Vergangenheit, personifiziert durch den Vater, dessen Beziehung zu seinen Kindern genauso unpersönlich, wie undurchsichtig und dennoch spürbar Schuld ist, am verkorksten Leben seiner Sprösslinge. Hat er seinen - damals noch - Sohn vergewaltigt, wie Hans-Jörg behauptet?
Das Faszinierende und letztendlich Überraschende an „Agnes und seine Brüder“ ist, dass der Film nicht die Ursachen für die Probleme der Charaktere ergründet, sondern lediglich die Folgen aufzeigt und dafür, wie eingangs schon erwähnt, die härtesten aller Bandagen anlegt. Deshalb macht es auch Sinn, dass die Figuren keiner nachvollziehbaren Psychologie folgen, sondern immer den extremsten Weg suchen. Roehler hilft ihnen dabei, indem er auch den Realismus beiseite schiebt und Situationen schafft, die ebenfalls keine Logik besitzen und somit die Spannung und Neugier des Zuschauers über weite Strecken tragen. Als zum Beispiel Katja Riemanns Signe ihren Mann verlassen möchte, hält er sie auf. Sie fragt ihn, was er denn wolle und er antwortet „Dich ficken!“ und sie lässt es zu – jetzt, hier im Auto, einem Cabrio, vor den Augen der Nachbarn. Nach zwei Minuten ist es vorbei und sie fährt doch.
Roehler verlässt sich fast ausschließlich auf seine bis in die kleinsten Rollen großartig und manchmal raffiniert gegen den Strich besetzten Schauspieler und seine - wie er selbst sagt - „schräge“ Stimmung, denn „Agnes und seine Brüder“ ist im Gegensatz zum Inhalt, sehr schlicht gedreht. Das wiederum ist ein kluger Schachzug, denn dadurch schafft es Roehler, trotz aller Überreaktionen, seinen Film nicht ins Peinliche abgleiten zu lassen. Der Storyverlauf ist ebenfalls einfach gestrickt. Die Hauptpersonen treffen nur selten aufeinander, ihre Geschichten werden unabhängig voneinander erzählt und trotzdem besteht ein unsichtbares Band zwischen den drei Geschwistern, in dem Agnes der Dreh- und Angelpunkt ist und manchmal ein bisschen wie ein Engel wirkt, obwohl sie selbst mit so vielen Problemen zu kämpfen hat. Auch wenn es viel zu Lachen gibt, im Grunde regiert eine Ernsthaftigkeit, denn bei Roehler ist die Liebe, der Sex oder Beziehungen im Allgemeinen kein Spaß und komplizierter, als man denkt. Oft ist es harte Arbeit und auch Verzweiflung und keiner versteht den anderen. Und dann, wenn man glaubt, man kann es nicht mehr ertragen, geschieht ein Wunder. Denn auch das kann Oskar Roehler und vor allem das Kino. Wenn zum Beispiel Agnes vor ihrer großen Liebe in einem Brautkleid in einer kleinbürgerlichen deutschen Küche steht, dann stockt einem der Atem, auch weil man weiß, dass man die Figur jetzt erst richtig kennenlernt.
Nicht sicher ist, ob Roehler irgendeine Kritik äußert, dennoch werden so viele wichtige Themen angesprochen, wie schon seit langem nicht mehr. Transsexuelle, Masochismus, die Pornoindustrie, Entfremdung, Liebe in den buntesten Variationen, Einsamkeit und der Tod – alles hat hier seinen Platz, ohne passende Antworten parat zu haben, ja manchmal noch nicht einmal eine Frage aufzuwerfen. An einigen Stellen scheinen auch Vorbilder durch: „American Beauty“ zum Beispiel oder auch Fassbinder - was für Roehler nichts Neues ist. Auch er schreibt aus sich heraus und aus seiner Umgebung und seinen Beziehungen herum und schafft es so, jeden zu involvieren, ohne irgendjemandem seine Meinung explizit aufzudrücken. Ein Film ist bei Roehler eben nicht das wahre Leben, aber das Leben kann manchmal wie ein Film sein. Seine Figuren sind unantastbar und roh und der Zuschauer ist gefordert, sich zu äußern. Roehlers Talent ist unbestritten und das nicht nur durch den Deutschen Filmpreis für „Die Unberührbare“. Auch seine anderen Werke waren stets im Gespräch, wie zum Beispiel sein vorletzter Film „Der alte Affe Angst“ (mit André Hennicke und Marie Bäumer), der ebenfalls schonungslos und ehrlich eine Liebesgeschichte erzählt. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sich in „Agnes und seine Brüder“ ein Großteil der deutschen Schauspielelite trifft. Viele in nur kleinen Nebenrollen wie Til Schweiger, Ralph Herforth, Oliver Korittke oder Sven Martinek, aber alle, und allen voran die Hauptdarsteller, mit bleibender Wirkung. Wie der Film eben auch.