Neben Talk- und Gerichtsshows, neben Heimwerkermagazinen und Kochsendungen haben in den vergangenen Jahren vor allem Reality-Formate den deutschen TV-Markt überschwemmt. Und dabei haben gerade solche Programme langen Atem bewiesen, die sich mit den alltäglichen Aufgaben der Polizei beschäftigen. So haben sich zum Beispiel „Ärger im Revier – Auf Streife mit der Polizei“ auf RTL II oder „Toto und Harry“ auf Sat. 1 eine ungeheure Fanbase erarbeitet, obwohl man die Protagonisten nur ihren ganz normalen Dienst schieben sieht. Mit dem französischen Polizeidrama „Eine fatale Entscheidung“ verhält es sich nicht viel anders: Regisseur Xavier Beauvois hat sich ganz bewusst darauf beschränkt, die Polizeiarbeit als etwas nicht übermäßig Aufregendes oder gar Spektakuläres in Szene zu setzen. Dabei geht er aber mit solch einem Gespür für seine fast dokumentarisch anmutenden Bilder und seine komplexen Charaktere zu Werke, dass das Ergebnis um einiges spannender als ein typischer, mit Explosionen, Schießereien und Verfolgungsjagden voll gestopfter Cop-Thriller à la Hollywood geraten ist.
Nach erfolgreichem Abschluss der Polizeiakademie gibt es für den jungen Kommissar Antoine Derouére (Jalil Lespert) nur ein Ziel: Paris. Für den abenteuerlustigen Jungspund gibt es in der Provinz einfach zu wenig Action, nur ein Mord im Jahr reicht ihm bei weitem nicht aus. In der Hauptstadt angekommen, wird er dem Team der erfahrenen Polizistin Caroline Vaudieu (Nathalie Baye), die zuletzt zwei Jahre wegen ihrer Alkoholsucht ausgesetzt hatte, zugeteilt. Schnell stellt sich Antoines Dienst aber als langweiliger als erwartet heraus. Selbst die Ermittlungen in einer Mordserie werfen außer jeder Menge Routinearbeit nicht viel Aufregendes ab. Aber als Antoine und sein Kollege Louis (Antoine Chappey, 5x2) auf der Suche nach einem russischen Verdächtigen die sechzehnte Obdachlosenunterkunft abklappern, treffen sie eine fatale Entscheidung…
Eigentlich ist das Genre des Polizeifilms schon ziemlich ausgelutscht und die großen Meisterwerke wie etwa Don Siegels „Nur noch 72 Stunden“ liegen fast alle schon mindestens dreißig Jahre zurück. Aber indem Xavier Beauvois seinen Film konsequent als eine Art Anti-Thriller inszeniert, kann er dem alten Genre genug neue Facetten abgewinnen, um einen mehr als interessanten Kinoabend zu garantieren. Nie stellt er seine Regie-Arbeit in den Dienst von aufgesetzter Spannung oder oberflächlichen Effekten. Egal, ob er eine 08/15-Zeugenbefragung, eine Beschattung oder gar einen Polizistenmord zeigt, immer bleiben die Bilder ruhig, genau durchdacht und ganz nah bei den ungemein differenzierten und vor allem oftmals auch überraschend zwiespältigen Charakteren.
Die Figur des jungen Kommissars Antoine hat bei genauerer Betrachtung große Ähnlichkeit mit der des von Jake Gyllenhaal verkörperten Anthony Swofford in Sam Mendes´ Jarhead. Wo Swofford ein von seinen Vorgesetzen aufs Töten heiß gemachter GI war, stellt auch Antoine fremdes Leben hinter seinem eigenen Verlangen nach dem großen Abenteuer an. Das Polizistsein ist für ihn im Endeffekt nur ein Vorwand, um unter dem Deckmantel, anderen helfen zu wollen, sein persönliches „Cowboy und Indianer“-Spiel zu veranstalten. Und genau wie Swofford, der sein Gewehr in Rekordzeit auseinander und wieder zusammenbauen kann, es aber niemals auf einen Menschen abgefeuert hat, gibt es auch in „Eine fatale Entscheidung“ eine Szene, in der Antoine abends gelangweilt in seinem Bett liegt und mit seiner Dienstwaffe, mit der er niemals in einem Einsatz schießen wird, herumspielt. Dass dieser fragwürdige Charakter des leichtsinnigen Draufgängers trotzdem immer die Sympathien des Publikums auf seiner Seite hat, ist einzig und allein Jalil Lespert zu verdanken. Er verkörpert Antoine mit genug glaubhaftem jugendlichem Übermut, so dass man seiner Figur ihre „Dummheit“ trotz des kritischen Beigeschmacks leicht verzeihen kann.
Trotz seines sehr guten Auftritts ist Lesperts Leistung aber nicht die beste des Films. Die französische Schauspielikone Nathalie Baye, die von 1981 bis 83 für ihre Rollen in Godards „Rette sich, wer kann (das Leben)“, „Eine merkwürdige Karriere“ und „La Balance“ gleich drei Mal in Folge den Filmpreis César gewonnen hat, spielt den alkoholkranken, abgehalfterten Superbullen (sprich: eine Art europäischen Arthouse-Bruce-Willis) mit einer solch unglaublichen Präsenz, dass sie den französischen Oskar für ihre Darstellung in „Eine fatale Entscheidung“ verdientermaßen zum vierten Mal in Empfang nehmen durfte.
Aber nicht nur Inszenierung, Charakterzeichnung und Schauspiel sind durchweg gelungen, auch die Krimigeschichte ist hochinteressant. Zwar dient der Fall um die mordenden Russen eigentlich nur zur Unterstreichung der Charaktere und hat kaum einen Selbstzweck. Aber immer wieder fallen während der Ermittlungen brisante Themen in das Blickfeld des Films, die in Dialogen oder kurzen Bemerkungen versteckt, äußerst gelungen-kritisch behandelt werden, ohne dabei aber durch einen zu sehr erhobenen Zeigefinger den Zuschauer zu nerven. So drehen sich zum Beispiel Gespräche unter den Polizisten um Themen wie Todesstrafe oder die Behandlung von emigrierten Kollegen. Auch durch die Auswahl des Kriminalfalls selbst trifft der Film eine Aussage: Anstatt einen Mord zu nehmen, bei dem die Polizisten kombinieren können, gibt es eine Mordserie mit bekannten russischen Tätern, die äußerst brutal und erbarmungslos zur Sache gehen – ein Statement zu den großen, fast unlösbar scheinenden Problemen, denen sich Frankreich seit dem Scheitern der Emigration seiner Zuwanderer gegenübersieht. So ist „Eine fatale Entscheidung“ großes Schauspielerkino, großes Charakterkino und nicht trotz, sondern gerade wegen seiner minimalistischen Inszenierung großes Kino überhaupt.