Cyberpunk- und Body-Horror sind die beiden Begriffe, die selbst eingefleischte Fans noch am meisten mit Regisseur Shinya Tsukamoto verbinden. Doch das einstige Enfant terrible ist längst erwachsener geworden. Mit dem 1988 gedrehten Kultexperimentalfilm „Tetsuo“ hat er die Filmwelt das erste Mal in Aufregung gesetzt, galt von da ans als zweiter Cronenberg. Doch ähnlich wie bei diesem hat sich sein Stil über die Jahre verändert. Spätestens „A Snake Of June“ zeigte einen neuen Tsukamoto. Zwar immer noch – typisch Tsukamoto – sehr verstörend, gelang ihm ein überzeugendes und fesselndes Erotik-Drama, das ihm auch Anerkennung bei den Kritikern brachte, die ihn bis dahin verschmäht haben. Mit „Vital“ geht er nun den nächsten Schritt, verzichtet völlig auf drastische Bilder, und liefert ein erwachsenes Drama ab. Dabei scheitert er aber leider an seinen platten Aussagen und der – vor allem im Vergleich zu „A Snake Of June“ – fehlenden Faszination des Zuschauers für den Stoff.
Nach einem Autounfall fehlen Hiroshi Takagi (Tadanobu Asano) seine gesamten Erinnerungen. Er weiß nicht mehr, was er gemacht hat, wer er ist und erkennt Vater (Kazuyoshi Kushida) und Mutter (Lily) nicht mehr. Ein positives hat dieser Gedächtnisverlust für die Eltern. Kurz vor dem Unfall war Hiroshi fest entschlossen, sein Medizinstudium hinzuschmeißen, als ihm nun ein Medizinbuch in die Hände fällt, will er unbedingt weiter Medizin studieren. Gerade sein Vater, der immer davon geträumt hat, dass der Sohn Arzt wird, zeigt sich über diese Entwicklung erfreut.
Das Medizinstudium läuft für Hiroshi großartig. Er und Kommilitonin Ikumi (Kiki) liefern eine Bestnote nach der anderen ab. Ikumi ist schnell fasziniert von dem schweigsamen Mitstudenten, der ihr als einziger das Wasser reichen kann. Doch Hiroshi ignoriert sie größtenteils. Dann kommt das Anatomiepraktikum. Auf dem Tisch von Hiroshis Gruppe liegt der Körper einer jungen Frau. Als Hiroshi beginnt, sie zu sezieren, kehrt ein wenig seiner Erinnerung zurück. Er realisiert, wen er vor sich hat. Ryôko (Nami Tsukamoto), seine Freundin, die bei dem Autounfall ums Leben kam. Bei der Suche nach Erinnerungen flüchtet sich Hiroshi in eine Traumwelt, in welcher er mit Ryôko glücklich an einem Strand liegt, mit ihr Sex hat, von Kindern und einer gemeinsamen Zukunft träumt. Doch er muss wieder in die Realität finden, wenn er leben und wieder lieben will…
Das ist verkürzt dargestellt auch die recht simple Aussage von Shinya Tsukamatos Werk. Der am Anfang seiner Karriere so verstörende und schwer zu durchschauende Regisseur (zu „Tetsuo“ gibt es wohl nicht minder viele Deutungsversuche wie zu David Lynchs Eraserhead) führt hier den Zuschauer zwar erst einmal wieder in eine recht komplexe Bilderwelt, diese ist aber recht schnell durchdrungen. Tsukamoto schafft es zu Beginn zwar wieder zu faszinieren, zeigt einmal die dunkle triste reale Welt (perfekt fügt sich da der Anatomieraum im Keller sowie Hiroshis graue Wohnung ein) und die helle, farbenfrohe Traumwelt (der Strand mit bunter Pflanzenwelt), doch sein Film erschöpft sich zu schnell in diesen Motiven. Der Film tritt nach interessantem Beginn, spätestens ab dem Mittelteil, zu lange auf der Stelle.
Dazu kommt, dass dem Zuschauer schnell klar wird, worauf Tsukamoto hinaus will. Ikumi liebt Hiroshi, der aber einfach nicht loslassen kann, immer noch Ryôko liebt. Ausweg aus dem Ganzen: Hiroshi muss den Tod seiner Freundin verarbeiten. Darauf läuft im Endeffekt der ganze Film hinaus, was doch recht enttäuschend ist, wenn man die Komplexität anderer Tsukamoto-Werke betrachtet.
„Vital“ ist trotz dieser Kritik kein schlechter Film geworden. Shinya Tsukamoto ist ein guter Regisseur, dass kann er auch hier beweisen. Die Bildmontagen sind exzellent, immer wenn das Interesse für die vor sich hin tröpfelnde Geschichte mal wieder weg ist, kann man sich einfach an der handwerklichen Raffinesse dieses Regisseurs, der hier auch wieder selbst für Kamera und Schnitt zuständig ist, ergötzen. Neben den starken Szenen, die der Film durchaus zuhauf hat, sicher mit ein Grund, sich dieses Werk trotz der Schwächen anzuschauen.
Einen weiteren Grund liefert der Hauptdarsteller. Tadanobu Asano ist der vielleicht beste männliche Darsteller, den das asiatische Kino seit Toshirô Mifune (Die sieben Samurai ) zu bieten hatte. Wie sonst vielleicht nur noch George Clooney und vor allem Johnny Depp schafft er es, seinen Ruf als Frauenschwarm zu wahren, dabei aber immer wieder vielfältige Rollen in zahlreichen kleinen Filmen, weit weg vom großen Publikum, zu spielen. So reicht seine Filmographie von der Darstellung eines Samurais in Takeshi Kitanos „Zatoichi - Der blinde Samurai“, über seine Kultrolle als durchgeknallter Yakuza Kakihara in Takashi Miikes Splattergroteske „Ichi, the killer“ bis hin zur Darstellung des ordnungsfanatischen Buchhaltertypen in Last Life In The Universe. In „Vital“ zeigt er erneut seine Vielfältigkeit. Asano ist zwar schon Anfang 30, trotzdem nimmt man ihm die Rolle als Student jederzeit ab. Die langen Haare, die er sich extra für die Rolle wachsen ließ, verstärken den Eindruck, dass man hier einen jüngeren Mann, Anfangs bis Mitte zwanzig, vor sich hat. In eindrucksvoller Weise gelingt ihm zudem sowohl die Darstellung des apathisch wirkenden, schweigsamen Einzelgängers in der Realität als auch des glücklich Verliebten in der Traumwelt.
So ist „Vital“ eine weitere Entwicklung von Shinya Tsukamoto, die aber nur teilweise überzeugt. Die Geschichte gibt leider zu wenig her, um diesen Film auf das Niveau von Tsukamotos letztem Film „A Snake Of June“ zu bringen. Ein herausragender Tadanobu Asano, Tsukamotos gelungene Inszenierung und der sehr schöne und gekonnt eingesetzte Soundtrack sorgen aber dennoch für viele überzeugende Momente.