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    Paradise Now
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Paradise Now
    Von Lars Lachmann

    Was geht im Kopf eines Selbstmordattentäters vor? Wie groß muss das Ausmaß seiner Verzweiflung oder seines Fanatismus sein, um ihn zu einer dermaßen radikalen Handlung zu veranlassen? Was ist er für ein Mensch? Gibt es den typischen Selbstmordattentäter? Diese oder ähnliche Fragen hat sich vielleicht jeder von uns schon einmal gestellt, wenn uns wieder einmal entsprechende Nachrichten aus den Krisengebieten im Nahen Osten ereilten. Hany Abu-Assads Drama „Paradise Now“ setzt an genau diesem Punkt an und erzählt die Geschichte zweier junger Palästinenser, die auf den Weg nach Tel Aviv geschickt werden, um sich dort in die Luft zu sprengen – und dabei so viele Israelis wie möglich in den Tod mitzureißen.

    Khaled (Ali Suliman) und Saïd (Kais Nashef) sind schon seit frühester Kindheit gute Freunde. In ihrer Heimatstadt Nablus im Westjordanland verdienen sie ihren Lebensunterhalt als Mechaniker in einer Autowerkstatt. Die Handlung setzt an dem Tag ein, der eine radikale Wendung im Leben der beiden Freunde herbeiführen soll. Khaled wird infolge eines Streits mit seinem Chef kurzerhand gefeuert. Saïd lernt die attraktive Suha (Lubna Azabal), eine Kundin der Werkstatt, kennen und es entwickelt sich sofort eine gegenseitige Sympathie zwischen den beiden. Als die Männer am Abend von Mitgliedern einer radikalen Widerstandsorganisation – in Saïds Fall der angesehene Lehrer Jamal (Amer Hlehel) – benachrichtigt werden, dass sie für eine Mission als Selbstmordattentäter in Tel Aviv ausgewählt wurden, überschattet dies die vergleichsweise banalen vorherigen Ereignisse des Tages. Die beiden verbringen ihren letzten Abend im Kreis ihrer jeweiligen Familie, ohne dieser etwas über die bevorstehende Mission mitteilen zu dürfen. Am folgenden Tag ist es soweit: Nachdem die Sprengladungen an den Körpern der Männer angebracht sind, folgt die Inszenierung ihrer bekennenden Abschlussrede vor der Kamera. Auf der Fahrt zur israelischen Grenze versorgt sie Jamal mit letzten Instruktionen, auf der anderen Seite sollen sie von einem gekauften israelischen Kurier in die Hauptstadt gebracht werden. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Nach dem Passieren des Grenzzauns zwingt eine vorbeifahrende Militärpatrouille die beiden Männer zur Flucht, bei der sie sich aus den Augen verlieren und somit zunächst einmal auf sich allein gestellt sind...

    Regisseur und Drehbuchschreiber Hany Abu-Assad hat sich für seinen Film ein brisantes, aktuelles Thema ausgewählt. Seine Recherchen zu diesem Projekt umfassten Vernehmungsprotokolle gescheiterter Attentäter und andere israelische Polizeiberichte ebenso wie Gespräche mit Freunden und Hinterbliebenen von Selbstmordattentätern. Auch wenn es sich bei dem Gezeigten um ein fiktionales Kunstwerk handelt, steht dahinter der Anspruch, ein möglichst realistisches Bild der Situation vor Ort zu zeigen. Demzufolge sah sich die Filmcrew während ihrer Dreharbeiten an den Originalschauplätzen von April bis Juni 2004 auch mit Schwierigkeiten verschiedener Art konfrontiert. So hätten Schießereien und israelische Raketenangriffe nach Abu-Assads Aussage nicht nur zu wiederholten Unterbrechungen geführt, sondern veranlassten schließlich Mitglieder der Crew, den Drehort vorzeitig zu verlassen. Auch eine Fraktion palästinensischer Hardliner habe an einem Drehtag die Crew mit vorgehaltenen Waffen dazu aufgefordert, die Arbeiten zu beenden, da der Film ihrer Meinung nach die Selbstmordattentäter in keinem guten Licht erscheinen ließe. In diesem Fall sei es nur durch die Hilfe anderer palästinensischer Gruppierungen, die von den aufklärerischen Motiven des Projekts überzeugt waren, gelungen, die Bedrohung abzuwenden.

    Diese angespannte, von Konflikt geprägte Situation wird bereits in der Anfangsszene deutlich, in der Suha, die nach einem langem Auslandsaufenthalt in Frankreich und Marokko wieder in ihre Heimat zurückkehrt, die israelisch-palästinensische Grenze passiert. Während der Kontrolle ihres Gepäcks und ihres Ausweises bleiben die ganze Zeit über misstrauische, feindselige Blicke sowie ein Maschinengewehr auf die junge Frau gerichtet, mit der der Zuschauer gleichzeitig den Schauplatz betritt, in der sich der Großteil der folgenden Handlung abspielen wird. Auch in Nablus selbst ist der Konflikt allgegenwärtig: Eine Einstellung zeigt eine Reihe von Menschen, die auf einem Pfad eine Wiese überqueren, bei einer im Hintergrund zu hörenden Explosion kurz zusammenzucken, um ihren Weg in der eingeschlagenen Richtung sogleich wieder fortzusetzen. Die Szene lässt unmittelbar erkennen, dass solche Ereignisse zum Alltag dieser Menschen gehören.

    Abgesehen von der hervorragenden Leistung der beiden Hauptdarsteller Ali Suliman („Die syrische Braut“) und Kais Nashef sowie der von Lubna Azabal („Weit weg – Loin“) in der Rolle der Suha überzeugt das Drama in künstlerischer Hinsicht nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie es bei einigen Gelegenheiten auf das Medium Film selbst rekurriert: Im Gespräch mit Saïd erfährt Suha, dass dieser bisher erst einmal im Kino gewesen ist – jedoch nicht, um einen Film zu sehen, sondern es im Zuge einer Protestaktion niederzubrennen. Ebenso wird darauf eingegangen, dass die im Verkauf und im Verleih am meisten nachgefragten Videobänder solche sind, die Bekenntnisreden von Attentätern zeigen – in der Beliebtheitsskala stehen diese nur knapp hinter den filmisch dokumentierten Prozessen von „Kollaborateuren“. Auch der Titel „Paradise Now“ lässt sich schon in gewissem Sinne als Referenz auf den Antikriegsfilm schlechthin, Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, verstehen. Auch in Abu-Assads Drama werden Menschen auf eine im Grunde sinnlose Mission geschickt, die – in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes – ein Himmelfahrtskommando ist. Der Eintritt ins Paradies, welchen Jamal den beiden Männern nach Durchführung ihres Auftrags in Aussicht stellt, mag sich für einige Menschen der vom ständigen Konflikt zermürbten Region, denen bereits jede Perspektive für ein glückliches Leben in Frieden abhanden gekommen ist, als letzte Zuflucht angesehen werden. Die Tatsache, dass sich durch ein solches Handeln die Situation der verbleibenden Menschen nur noch mehr verschlimmert, wird dabei leider zu selten berücksichtigt.

    Abu-Assad ist es mit diesem Film, der bei den 55. Internationalen Filmfestspielen in Berlin 2005 mit dem Publikumspreis, dem Blauen Engel für den besten europäischen Film sowie dem Friedenspreis von Amnesty International ausgezeichnet wurde, gelungen, diese zugrunde liegende komplexe Thematik authentisch und überzeugend differenziert darzulegen, ohne dabei moralisierend oder belehrend zu wirken. Vielmehr ist der Zuschauer selbst bei der Interpretation, der Wertung und vor allem bei der anschließenden Diskussion des Gezeigten gefordert. Keine Seite, so Abu-Assad, könne hier auf moralischen Beistand hoffen, da Töten unmoralisch sei. In diesem Sinne bleibt nur zu wünschen, dass dieses Werk auf seine Weise zu einer fruchtbaren Diskussion um die Möglichkeit von friedlichen Lösungsansätzen der schwierigen Lage im Nahen Osten beitragen kann.

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