Legende Al Pacino hat seine besten Zeiten ohne Frage hinter sich gelassen. In seiner jüngeren Filmographie finden sich einige schwarze Flecke und Filme wie „Im inneren Kreis“ erreichten in Deutschland zurecht nicht die Lichtspielhäuser, sondern nur die Videotheken. Auch Jon Avnets „88 Minutes“ widerfährt dieses Schicksal. Dort gehört der Echtzeit-Thriller, der alles andere als ein Ruhmesblatt für seinen Hauptdarsteller ist, leider auch hin. Immerhin darf man sich freuen, das mit einer turbulenten Produktionsphase ausgestattete Werk aus dem Sortiment der berüchtigten Produktionsfirma Millennium Films überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Und Pacino-Fans können sich über die nahezu gesamte Spielzeit an ihrem Idol ergötzen. Es sorgt dafür, dass das eigentlich recht schwache Gesamtprodukt dann doch noch im unteren Mittelfeld landet.
Neun Jahre nachdem Dr. Jack Gramm (Al Pacino) als Sachverständiger maßgeblich dafür gesorgt hat, dass Jo(h)n Forster (Neal McDonough) wegen Mordes zum Tode verurteilt wird, tauchen Zweifel an dessen Schuld auf. Just als sich der Hinrichtungstermin nähert, ereignen sich neue Morde, die genau nach dem alten Muster verlaufen. Während der frisch von der Uni gekommene Vertreter der Staatsanwalt Jeremy Guber (Christopher Redman) eine damalige Fehldiagnose von Universitätsprofessor Gramm für möglich hält, ist sich dieser sicher, dass Forster einen Komplizen hat, der auf diese Weise versucht, ihn vor der Todesstrafe zu retten. Schnell rückt der egomanischen Womanizer Gramm immer mehr selbst in den Mittelpunkt des Falles. Erst wird eine Studentin (Kristina Copeland), der er sehr nahe stand, ein weiteres Opfer des „Schlächters von Seattle“ und dann klingelt am Tag, an dem die Hinrichtung stattfinden soll, Gramms Handy. Eine verzerrte Stimme prophezeit ihm, dass er nur noch 88 Minuten zu leben hat. Was er zunächst auf die leichte Schulter nimmt, entpuppt sich als tödlicher Ernst. Als ihm klar wird, dass die Bedrohung aus seiner näheren Umgebung stammen muss, verschärft sich die Lage noch mehr. Jeder könnte es sein, Studenten, Mitarbeiter, Ex-Freundinnen oder auch der letzte One-Night-Stand (Leah Cairns).
Die Entstehungsgeschichte von „88 Minutes“ ist ein deutlich längeres Martyrium als es Protagonist Jack Gramm durchstehen muss. Schon in der Pre-Production-Phase gab es zahlreiche Probleme. Das Drehbuch wurde mehrfach umgeschrieben und schließlich auch noch Regisseur James Foley (Glengarry Glen Ross, Confidence, Verführung einer Fremden) durch Jon Avnet ersetzt, dessen letzter Kinofilm „Red Corner“ (mit Richard Gere) aus dem Jahr 1997 stammt. Gedreht wurde dann Ende des Jahres 2005 und ein Kinostart für 2006 angekündigt. Daraus wurde nichts. Die Ergebnisse bei den obligatorischen Testvorführungen sollen – wenn man Hollywoodbranchenblättern glauben darf – katastrophal gewesen sein. Eine Zeit lang kursierte sogar das (unbestätigte) Gerücht durch das Internet, der Film hätte bei den Werten des Testpublikums einen neuen Negativrekord aufgestellt. Umfangreiche Nachdrehs (für welche der Hauptdarsteller aber nur noch eingeschränkt zur Verfügung stand) und ständige Umschnitte waren die Folge, doch das Ergebnis schien nicht zufrieden stellend geworden zu sein. Der Thriller verschwand im Giftschrank. Da der Name Pacino aber einfach zieht und ein Thriller in den Videotheken leicht zu vermarkten ist, öffnete irgendjemand dann doch die untere Schublade und so erscheint er langsam in den ersten Ländern auf Video. Ausnahmsweise darf Deutschland hier mal eine Vorreiterrolle spielen und als eines der früheren Länder mit der Auswertung beginnen. In den USA wird man Pacino als gejagten Psychiater wohl erst 2008 bewundern dürfen, ob im Kino, wie Optimisten immer noch glauben, ist aber eher fraglich. Es wäre übrigens erst der zweite Pacino (nach seiner nur auf Festivals gelaufenen Regiearbeit „Chinese Coffee“), dem nicht einmal ein Kleinststart mit einer Handvoll Kopien in ein paar New Yorker Arthouse-Kinos beschert werden würde.
Man merkt der ab der ersten Todesdrohung in Echtzeit erzählten Hetzjagd die problematische Vorgeschichte durchaus an. Das Drehbuch ist wohl von Gary Scott Thompson (The Fast And The Furious, „Timecop 2“ „Mein Partner mit der kalten Schnauze 2“) am Reißbrett entworfen worden und recht arm an Überraschungsmomenten und Rasanz. Gerade die Backgroundstory rund um Gramms tote Schwester wurde direkt aus der Kiste für ausgelutschte Ideen geholt. Die Regie reiht sich da nahtlos ein. Dass der Film in Echtzeit spielt, wird überhaupt nicht genutzt, sondern ist einfach nur eine Beiläufigkeit. Durch die vielen Änderungen und Neuschnitte haben es zudem eine Menge Continuityfehler in die knapp 110 Minuten geschafft. Man kann sich nicht einmal entscheiden, ob Jon oder John Forster im Todestrakt sitzt. Beide Schreibweisen werden benutzt (ersterer häufiger und auch im Abspann). Die interessanten Aspekte, welche sich gerade im Hinblick auf die Verbindung Todesstrafe sowie US-Geschworenensystem ergeben, werden leider kaum genutzt.
„88 Minutes“ ist voll auf seinen Hauptdarsteller zugeschnitten. Ohne Al Pacino wäre der Film ein Nichts, welches in den hintersten Regalen der Videotheken verschwinden würde. Und auch wenn Pacino nicht mehr der von früher ist, deutlich hinter Glanzleistungen aus Serpico, Hundstage, Der Pate II, „Panik im Needle Park“, Insider oder Heat zurückbleibt, reicht eine solide Vorstellung, um den Film vor dem Untergang zu retten. Mit seinem bekannten, manchmal auch als Overacting kritisierten, sehr exzessiven Spiel verleiht er seiner Figur mehr Profil als es das Drehbuch vermag. Man kann ihm und den Autoren nur vorwerfen, dass man sich seinen Charakter noch eine Spur egomanischer und damit unsympathischer gewünscht hätte. In den entscheidenden Momenten wird er zum Beispiel mit dem Hintenanstellen der eigenen Probleme und dem Einsatz für eine Studentin dann doch der klassische Sympathieträger. Neben Pacino schafft es fast nur noch Neal McDonough nachdrücklich in Erinnerung zu bleiben. Er wirkt bedrohlich, trotzdem ist man sich nie ganz sicher, ob er nicht unschuldig auf die Hinrichtung wartet. Dass der Film daneben unter anderem mit Leelee Sobieski (Joyride, Wicker Man), Deborah Kara Unger (Silent Hill, The Game) sowie den Serienstars Amy Brenneman („Für alle Fälle Amy“, Heat), Leah Cairns (Battlestar Galactica und Benjamin McKenzie (O.C. California, Junebug) bekannte Gesichter aufbietet, ist ein einfaches Zünden von Nebelkerzen. Nur eine einzige prominent besetzte Nebenrolle, die lange Zeit im Hintergrund agiert, wäre ein zu klarer Fingerzeig auf die Identität des mysteriösen Mörders. Zu verraten, welcher Akteur sich neben Pacino und McDonough noch profilieren kann, käme einer Auflösung des Endes gleich. So viel kann dazu aber verraten werden: Die Täterenthüllung selbst ist aufgrund übertragbarer Motivation eigentlich einfach austauschbar. Es verwundert daher nicht, dass es in einem früheren Stadium in der langen Entstehungsgeschichte einen anderen Killer gab.
Der Pacino-Schinken reiht sich damit nahtlos in die Geschichte seiner Produktionsfirma. Millennium Films ist seit einigen Jahren nach dem gleichen Schema auf dem Markt tätig. Genre: Action oder Thriller, eher dünne Story plus prominenter Namen gleich großer Gewinn in der Videothekenauswertung. Dadurch entstanden Werke wie die Ringo Lam/Jean-Claude Van Damme-Kollaborationen „Replicant“ und „In Hell“, The Cutter mit Chuck Norris oder der lahme Thriller „Edison“ mit Hochkarätern wie Kevin Spacey und Morgan Freeman auf der Besetzungsliste. Erst seit 2006 versucht man auch anspruchsvollere Produktionen daneben zu lancieren, ließ zum Beispiel Brian De Palma James Ellroys Noir-Thriller The Black Dahlia verfilmen und schickte einen gealterten Bruce Willis durch 16 Blocks. Die Mehrheit der neuen Produktionen (z.B. Home Of The Brave, Until Death oder Zombies) erscheint allerdings in Deutschland nach wie vor direkt auf DVD. Für nächstes Jahr will man bei Millennium aber weiter angreifen. The Night Watchman (nach einem Drehbuch von James Ellroy), John Rambo und Righteous Kill heißen die viel versprechendsten Filme. Bei letzterem führt wieder Jon Avnet Regie, Al Pacino spielt erneut eine der Hauptrollen, die zweite übernimmt kein geringerer als Robert DeNiro. Bleibt zu hoffen, dass sich die Produktionsfirma nicht nur auf die Namen der Stars verlässt, sondern dieses Mal auch dem Rest genug Aufmerksamkeit widmet. Der Tenor der ersten Script Reviews lässt allerdings nichts Gutes vermuten…