Letzten Endes gibt es keine wirklich unverfilmbaren Romane, auch wenn das immer mal wieder behauptet wird. Prinzipiell lässt sich jeder Roman in einen Film verwandeln. Dass bei dieser Transformation etwas verloren geht, versteht sich natürlich von selbst. Aber es kommt immer auch etwas hinzu, so dass letztlich nur das Verhältnis zwischen dem einen und dem anderen entscheidend ist. Bei Peter Jacksons Verfilmung der „Herr der Ringe“-Trilogie ist diese Gleichung nicht nur in den Augen der meisten Tolkien-Fans aufgegangen, und wieder einmal war der Beweis erbracht, dass selbst ein so komplexes und umfangreiches Epos durchaus filmtauglich sein kann. Nun hat sich Jackson erneut einer überaus erfolgreichen Romanvorlage zugewandt. Nur stellt Alice Sebolds Familiendrama „In meinem Himmel“ in mancherlei Hinsicht eine noch viel größere Herausforderung dar als Tolkiens Fantasy-Klassiker. Innere psychologische Prozesse, wie sie Alice Sebold beschreibt, neigen dazu, sich den Bildern und Bewegungen eines Films zu entziehen. Also musste Jackson zwangsläufig das Innere immer wieder nach Außen kehren und ein leises, von tiefer Trauer, aber auch unerschütterlicher Hoffnung durchzogenes Drama in einen eher konventionellen Thriller umwandeln. Die Verluste, die diese Metamorphose mit sich bringt, sind dabei nur allzu offensichtlich, ihr Mehrwert ist dagegen schon viel schwerer zu fassen.
Bisher war das Leben der 14-jährigen Susie Salmon (Saoirse Ronan, Tödliche Magie, Abbitte) nicht gerade sonderlich aufregend. Sie konnte wohlbehütet im Schoß ihrer sie liebenden Familie aufwachsen. Sorgen und Streit entstehen meist nur aus kleineren finanziellen Engpässen. So ist es ihren Eltern, Abigail (Rachel Weisz, Die Mumie, Vielleicht, vielleicht auch nicht) und Jack (Mark Wahlberg, Boogie Nights, Helden der Nacht), unmöglich, alle 24 Filme, die Susie in kürzester Zeit mit ihrer neuen Kamera verschossen hat, auf einmal entwickeln zu lassen. Aber selbst die Enttäuschung darüber verblasst sofort, als sie erkennt, dass sich ihr erster Schwarm, Ray Singh (Reece Ritchie, 10.000 BC, Prince of Persia – Der Sand der Zeit), auch für sie interessiert. Gerade an diesem Nachmittag begegnet sie auf dem Heimweg von der Schule George Harvey (Stanley Tucci, Terminal, Julie & Julia), einem Nachbarn, der sie in einen unterirdischen Bunker unter einem Feld lockt und sie dort tötet. Nur kann sie sich noch nicht ganz vom Leben, von ihrer Familie, von Ray und von ihrem Mörder lösen und verharrt in einem Zwischenreich, von dem aus sie die anderen fortan beobachtet.
Susies kleine Heimatstadt im Pennsylvania der 1970er Jahre und ihr Himmel, den sie nicht verlassen will, bevor sie ihren Frieden mit den Menschen und der Welt gemacht hat, könnten kaum unterschiedlicher sein. Peter Jackson (Braindead, Heavenly Creatures, King Kong) setzt von Anfang an auf deutliche, auch filmtechnische Kontraste. In den Szenen auf der Erde sucht er nach einem Look, wie ihn auch die Filme der frühen 70er Jahre hatten. Erinnerungen an Martin Scorseses „Alice lebt hier nicht mehr“ oder an Bob Rafelsons „Five Easy Pieces“ drängen sich angesichts der dominierenden Grau- und Brauntöne praktisch auf. Doch eins unterscheidet „In meinem Himmel“ dann doch wieder ganz deutlich von diesen Filmen. Während Scorsese und Rafelson noch mehr oder weniger ungefiltert ihre eigene Gegenwart einfingen und das Kino des New Hollywood damit fest in ihr verankerten, kann Jackson nur alte Bilder noch einmal neu in Szene setzen. So entsteht ein seltsamer, dabei durchaus faszinierender Retro-Realismus, der dann auch durch den Einsatz digitaler Effekte und computergenerierter Bilder gestützt werden kann.
Wie Susies Sehnsucht – sie kann aus ihrem Himmel nicht heraus, kann ihren Eltern weder beim Trauern noch bei der Suche nach dem Mörder helfen - bleibt auch Jacksons Wunsch letztlich unerfüllt. Er kann die 70er Jahre rekonstruieren und ihre Filme evozieren, zurück zu ihnen kann er nicht. Was bleibt, ist eine mehr oder weniger uneingestandene Sentimentalität, die Wunschvorstellung von einer Zeit und einer Welt, die aus heutiger Sicht irgendwie unschuldig und klar wirkt, in der am Ende selbst Mörder ihrem gerechten Schicksal nicht entgehen. Aber vielleicht liegt in dieser Rückprojektion, in der Verschiebung in eine mittlerweile idealisierte Ära, auch schon der Schlüssel zu dem sagenhaften Erfolg von Alice Sebolds Roman. Neu- und Umbewertungen der 70er Jahre sind schließlich seit einigen Jahren vor allem in den Vereinigten Staaten ein ganz zentrales gesellschaftliches Thema und erweisen sich in vielen Fällen, man denke nur an Roman Polanski, sogar als hart umkämpfte Schlachtfelder. Peter Jackson liefert dazu nun so etwas wie die unschuldige, die Erlösung garantierende Variante. Das Dunkle, das Bedrohliche dieser Ära, ihre destruktive oder gar tödliche Schattenseite, wird noch einmal heraufbeschworen und dann endgültig entsorgt. Für einen Moment kann sogar aus einer zu früh zerstörten, verlorengegangenen Möglichkeit eine eigene Realität werden.
Jacksons Sehnsucht nach Harmonie, nach einem erfüllten Abschluss, der dann den Weg für einen Neuanfang ebnet, ist letztlich nichts Neues. Sie durchzieht sein gesamtes Werk, und vielleicht ist sie es auch, die seinen Hang zu großen, sich selbst zur Schau stellenden Effekten, zu einer extrem offensiven, auch vor dem Kitschigen nicht zurückschreckenden Künstlichkeit erklärt. Zumindest war es so schon bei „Heavenly Creatures“, dessen Effekt-Sequenzen irgendwie noch einmal einen ganz anderen Film heraufbeschworen. Allerdings gehörten die Effekte seinerzeit einer durch und durch albtraumhaften Vision vom Leben und der Welt an. Nun bedient sich Jackson neuester CGI-Techniken, um das Düstere, das Zerstörerisch-Böse aufzulösen und dessen Reste zu vertreiben. Susies Himmel ist ein farbenfrohes, verspieltes, sich ständig im Fluss befindendes Reich, eine leicht surreale Welt, die genauso an Werke von René Magritte wie an Vincent Wards esoterisches Drama „Hinter dem Horizont“ denken lässt. Und auch dieser Kontrast zwischen den Assoziationen ist durchaus typisch für Jackson.
Immer wieder lädt Jacksons Kino zu solch klassischen Unterscheidungen zwischen hoher und trivialer Kunst ein, um sie dann einfach außer Kraft zu setzen. Natürlich ist dieser rein digital, also nur aus Nullen und Einsen, geschaffene Himmel, dieses Zwischenreich, das eben nicht als Purgatorium bezeichnet werden will, auch wenn es für Susie und die anderen Opfer George Harveys ein reinigender, ein befreiender Ort ist, purer Kitsch. Nur was heißt das letzten Endes noch? Kitsch liegt wie auch Schönheit einzig und allein im Auge des Betrachters; und selbst diese an sich kalte digitale Künstlichkeit kann mittlerweile ihre eigene Form von Wärme generieren, wenn auch nicht im Herzen jedes Betrachters. Mit jeder seiner Arbeiten hat Jackson ein ganz eigenes Zwischenreich, in dem Kunst und Kitsch, emotionale Nähe und Distanz nur noch eine Frage subjektiver Wahrnehmung sind, immer weiter ausgebaut, und so kann er bei seiner Adaption von Alice Sebolds Roman endgültig alle Zurückhaltung aufgeben. Nichts ist ihm bei der Gestaltung von Susies Himmel zu bunt oder zu idyllisch, zu groß oder zu sentimental. Das mag der eine oder andere dann als zu kitschig empfinden. Aber auch diese Reaktion ist durchaus einkalkuliert.
Jeder Widerspruch betont und bestätigt nur Jacksons Radikalität, in der übrigens auch der Mehrwert dieser Verfilmung liegt. Trotzdem gibt es in der Verschiebung der Schwerpunkte noch eine zweite, äußerst verlustreiche Bilanz: Jackson deutet zwar an, wie sehr Susies Eltern und ihre Geschwister mit der Trauer um die 14-Jährige zu kämpfen haben, aber Bilder findet er für ihren Kummer keine. Er sucht auch gar nicht nach ihnen. Obwohl er mit Mark Wahlberg, Rachel Weisz und Susan Sarandon (Thelma & Louise, Elizabethtown) in der Rolle von Susies Großmutter Lynn hervorragende Darsteller hat, die durchaus sehr zurückhaltend und präzise agieren können, setzt er ganz auf Szenen und Situationen, die alles plakativ nach Außen tragen. So nimmt er seinem Ensemble leider immer wieder den Raum für Zwischentöne und Nuancen. Alles ist immer ganz und gar eindeutig und überlebensgroß – vor allem die Macken und Ticks des Serienkillers George Harvey. Eine derart eindimensionale Darstellung des neurotisch Bösen muss sich ein Filmemacher allerdings auch erst einmal trauen. Jackson beraubt damit zwar Stanley Tucci seiner schauspielerischen Möglichkeiten, aber seiner eigenen Vision von der Welt bleibt er dafür umso treuer. Nur ist Alice Sebolds Geschichte eben nur am Rand die eines Thrillers. Indem er gerade diese Elemente in den Vordergrund rückt und dann noch einmal ausbaut, begibt sich Jackson in eine höchst prekäre Situation. Seiner ästhetischen Radikalität steht also immerfort eine inhaltliche Konventionalität entgegen, die wahrscheinlich nicht nur den einen oder anderen Leser des Romans enttäuschen wird.