„Ich weiß nicht, wo ich geboren wurde, außer dass das Schloss unendlich alt und unendlich grauenvoll war, voll dunkler Gänge und hoher Decken, an denen das Auge nur Spinnweben und Schatten wahrnehmen konnte. Ich muss Jahre an diesem Ort verbracht haben, aber ich habe kein Maß für die Zeit.“ So beschreibt Howard Phillips Lovecraft in seiner besonders morbiden Kurzgeschichte „Der Außenseiter“ die Erinnerungen der Hauptfigur an ein Leben in einem düsteren, unterirdischen Schloss. Vielleicht mag der sich der in Los Angeles geborene, aus Ungarn stammende Jungregisseur Nimród Antal von Howard Phillips Lovecraft inspiriert gefühlt haben, denn sein Werk „Kontroll“, der als Eröffnungsfilm auf dem Fantasy Filmfest 2004 für Furore sorgte und bei den Filmfestspielen in Cannes den „Prix de la Jeunesse“ errang, spielt ausnahmslos in derart finsteren unterirdischen Katakomben wie sie beim Wegbereiter der modernen Schauerliteratur so häufig zu finden sind, und besitzt vor allem in seiner Hauptfigur deutliche Referenzen an den literarischen „Außenseiter“ des amerikanischen Horror-Visionärs. Im Unterschied zu Lovecraft sind es jedoch in „Kontroll“ keine von Dämonen oder alten Göttern, sondern von Menschenhand geschaffene Höhlen: Alleiniger Schauplatz des Geschehens ist die U-Bahn von Budapest.
Allein diese Wahl macht „Kontroll“ zu einem außergewöhnlichen Film. Das riesige Unter-Tage- Schienennetzwerk der einstigen KUK-Metropole ist die älteste U-Bahn in Europa, ein gewaltiges, unterirdisches Labyrinth aus düsteren, zum Teil heruntergekommenen Röhren, Tunneln, Schächten, Plattformen, Bahnsteigen und Hallen, durch das sich jeden Tag Millionen von Menschen schieben. Nachdem Luc Besson anno 1985 der Pariser Metro mit „Subway“ ein Denkmal setzte, hat die U-Bahn der ungarischen Hauptstadt mit „Kontroll“ einen nahezu ebenbürtigen filmischen Ehrenplatz bekommen. Auch wenn die Budapester Verkehrbetriebe sicherlich nicht über alles, was Nimród Antals Film zeigt, erbaut sein dürften. So darf man sich als Zuschauer nicht wundern, dass im Prolog der echte Chef der Budapester Verkehrsbetriebe Aba Bontol eine Erklärung verliest, in der die fiktiven Inhalte des Films betont werden. „Kontroll“ beginnt mit einem Abstieg in diesen Neonlicht-durchflackerten Hades: Eine Punkerin, offenkundig in Folge übermäßigen Alkoholgenusses nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne, gleitet über eine riesige Rolltreppenphalanx in die Unterwelt, verharrt auf einem Bahnsteig kurz nach einigen verdächtigen Geräuschen und Lichtwechseln (die dem Thriller-erfahrenen Zuschauer das Herannahen drohenden Unheils unmissverständlich klar machen), dann fährt ein Zug ein, eine schattenhafte Bewegung, und von einer Sekunde zur nächsten erinnert nur noch ein einsamer Stöckelschuh an die Existenz der jungen Frau.
Wer nun jedoch glaubt, „Kontroll“ entwickele sich zu einem Genre-konformen Horror-Thriller, der irrt gewaltig – trotz des unzweifelhaft sehr Slasher-typischen Beginns. Denn die Geschichte um den schattenhaften, vermummten Killer, der seine Opfer auf einsamen U-Bahnhöfen vor einfahrende Züge stößt, ist nur einer von vielen, scheinbar unvereinbaren Handlungssträngen dieses facettenreichen Films. Im Fokus steht vielmehr eine Gruppe von Fahrkartenkontrolleuren: Ein skurriler Haufen halb verwilderter, vom alltäglichen Wahnsinn ihres Jobs ausgemergelter Underdogs, zermürbt und ausgebrannt im Krieg gegen Schwarzfahrer, Hooligans, Sprayer und konkurrierende Kontroll-Teams. Bulcsú (Sándor Csányi), der stille, verträumte Held, ist eine Figur wie aus den tiefsten Lovecraft’schen Phantasien: Eine bleiche Geistergestalt, ein Aussteiger und „Außenseiter“ im besten Sinne der gleichnamigen Kurzgeschichte, der das Schattenreich der Budapester U-Bahn nicht nur zu seinem Arbeitsplatz, sondern auch zu seinem Wohnraum erkoren und der seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen hat. Hinzu kommt ein Ensemble ebenso schrulliger, kauziger wie liebenswerter Outlaws: Tibi (Zsolt Nagy), der unerfahrene Youngster, Lescó (Sándor Badár), für den Sauberkeit und Hygiene offenbar Fremdworte sind, Muki (Csaba Pindroch), der vulgäre Fast-Food-Gourmet, der auf Grund seiner Narkolepsie bisweilen urplötzlich in totenähnliche Starre verfällt, und der abgeklärte „Professor“ (Zoltán Mucsi), seit drei Jahrzehnten als Kontrolleur unterwegs, der zwischen seinen Einsätzen lakonische philosophische Halbweisheiten von sich gibt.
Episodenhaft erzählt Nimród Antal seinen Film, wobei ihm größtenteils das Kunststück gelingt, narrativ von giftig-beißender Satire über beinharte Milieustudie von halbdokumentarischem Charakter bis zu völlig surrealistischen Horror-Sequenzen zu springen, ohne stilistisch den Bogen zu überspannen. Nur lose sind die einzelnen Begebenheiten miteinander verflochten: Die fünfköpfige Kontrolleurs-Gruppe jagt Schwarzfahrer und Randalierer, wird von Fußballfans auf das übelste verprügelt und hetzt stets einige Sekunden zu spät hinter dem jugendlichen Sprayer „Bootsie“ (Bence Mátyási) her, der die Schaffner aus purem Sportsgeist mit Rasierschaum terrorisiert und öffentlich demütigt. Und dann ist da noch der mysteriöse Killer „Shadow“, der Fahrgäste der Budapester Verkehrsbetriebe scheinbar wahllos dezimiert. Andere Personen bleiben schemenhaft: Vorgesetzte, lapidar nur „Die mit den Krawatten“ genannt, treten wie Gestapo-Kommandos auf, und eine geheimnisvolle Untergrund-Schöne, in die Bulcsú sich verliebt, erscheint ihm zunächst in Reminiszenz an „Mein Freund Harvey“ in einem Bärenkostüm und später als Elfe.
Seine Wirkung schöpft „Kontroll“ aus der visuellen Kraft seiner Bilder: Nimród Antal inszeniert das Budapester U-Bahn-System als urbanen Höllenschlund, als neon-beleuchtetes unterirdisches Metropolis mit Impressionen von abgrundtiefer Düsternis und dunkler Traumpoesie. Eine seiner beeindruckendsten Szenen findet „Kontroll“ mit Hauptfigur Bulcsú als schwarzem Schattenriss vor zwei riesigen Ventilatoren. Auch die (bislang außerhalb Ungarns völlig unbekannten) Mimen, allen voran Bulcsú-Darsteller Sándor Csányi, sind großartig besetzt. Die bizarre, fragmentarisch erzählte Story des Films kommt teilweise ähnlich vertrackt und mysteriös daher wie bei David Lynch, wenngleich auch nicht so konsequent kryptisch und verschlüsselt wie beim großen Meister des amerikanischen Rätselkinos. Dazu setzt das Thema erzählerisch zu viele Schranken, so dass die Story um die häufig allzu banalen Erlebnisse der U-Bahn-Kontrolleure der visuellen Phantasie Nimród Antals zwangsläufig hinterherhinkt.
Die Geschichte vom maskierten, äußerlich sicher nicht ganz zufällig an Tolkiens Nazgul erinnernde Bahnsteig-Schubser wird dabei fast nebenbei erzählt und gerät vorübergehend gegenüber all den anderen Schlamasseln, in die Bulcsú und seine Kollegen ständig geraten, nahezu in den Hintergrund. Dennoch ist der Mörder und seine Beziehung zur Hauptfigur das verbindende Element aller Anteile von „Kontroll“: Mit ihm beginnt der Film, mit ihm findet er bei einer Begegnung zwischen Bulcsú und dem Killer auf einem einsamen Bahnsteig seinen alptraumhaft inszenierten, fiebrig-halluzinierenden Höhepunkt. Eindeutig erklärt wird dabei von den vielen ausgelegten Rätseln und Fingerzeigen wenig, vielmehr verschließt sich „Kontroll“ bewusst einer eindimensionalen Deutung und lässt den Zuschauer mit seinen Fragen allein. Im ebenso vieldeutig interpretierbaren Finale schließt sich mit einer furiosen Tunnelverfolgungsjagd der Kreis zwischen Bulcsú, dem Killer und Howard Phillips Lovecrafts „Außenseiter“, der am Ende seiner Geschichte Ähnliches erkennt wie Naomi Watts in David Lynchs „Mulholland Drive“: No hay banda.