Mein Konto
    Mean Creek
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Mean Creek
    Von Claudia Holz

    „Stand By Me – Das Geheimnis eines Sommers“ gekreuzt mit „Beim Sterben ist jeder der Erste“ ergibt „Mean Creek“. So betitelt zumindest die allgemeine Filmlandschaft den Independent-Film über eine Gruppe von Jugendlichen, die in die tragischste Situation ihres bisherigen kurzen Lebens geraten. Regisseur und Drehbuchautor Jacob Aaron Estes benutzt dafür bekannte Bilder: Wer erinnert sich nicht an all die Gemeinheiten und Hiebe, die wir in der Schulzeit von offensichtlich stärkeren und mit Sicherheit skrupelloseren Kindern einstecken mussten – es sei denn, wir waren selbst die Aggressoren natürlich. Und falls wir zu keiner der beiden Gruppen gehörten, dann wurden wir bestimmt schon einmal Zeuge von Gewalt unter Kindern auf unseren Schulen und haben uns dazu entschieden, nicht einzugreifen. „Mean Creek“ treibt die Rachegedanken einer ganzen Clique auf die Spitze und spielt so den Traum von vielen wehrlosen Kindern durch. Was wäre, wenn sich die Möglichkeit ergäbe, dem gewalttätigen Tyrann der Schule kräftig eins auszuwischen?

    Sam (Rory Culkin) wird von George (Josh Peck), einem besonders streitsüchtigen Kind, regelmäßig schikaniert und verprügelt. Eines Tages jedoch geht George so weit, dass Sams älterer Bruder Rocky (Trevor Morgan) sich einen Racheplan ausdenkt. Bei einem Bootsausflug wollen sie George einen gewaltlosen, aber schwer peinlichen Streich spielen, damit der endlich einmal am eigenen Leib das heimgezahlt bekommt, was er anderen Kindern antut. Mit von der Partie sind noch Rockys Freunde Marty (Scott Mechlowicz) und Clyde (Ryan Kelley). Nur Sams Freundin Millie (Carly Schroeder) hat zunächst keine Ahnung, dass bei dem Wochenendtrip ein Rachefeldzug geplant ist. Unterwegs lernt die Gruppe den übergewichtigen George jedoch als bemitleidenswerten Einzelgänger kennen und Sam möchte den Plan abblasen. Doch die Probleme eines jeden einzelnen in der Gruppe in Kombination mit aufgestauter Wut machen es schwer, den einmal gefassten Plan wieder fallen zu lassen. Vor allem der Teenager Marty möchte sich auf keinen Fall diese einmalige Chance der Rache entgehen lassen. Auf dem Fluss eskaliert schließlich die ganze Situation, die für alle Beteiligten tragische Konsequenzen nach sich ziehen wird...

    Furchtlose Jungdarsteller, eine packende Geschichte direkt aus dem Leben, eine durchweg realistische Inszenierung und eine atemberaubend schöne Kameraarbeit sind hier die Zutaten für ein modernes und ergreifendes Ensemble-Drama, das zumindest in der ersten Hälfte eine faszinierende Sogwirkung hat. Bereits in den ersten Minuten wird klar, dass die Figuren nicht mit Samthandschuhen angepackt werden: Als George sich beim Basketballspielen mit einer Videokamera filmt und Sam zufällig einen kurzen Blick darauf wirft, rastet George aus und schlägt Sam auf dem Schulhof und vor versammelten Massen zusammen. Doch, wie kann Gewalt so stark eskalieren?

    Regisseur und Autor Estes wählt dazu ein Milieu, in dem Kinder anscheinend ohne Einfluss von Erwachsenen groß werden und teilweise gänzlich auf sich allein gestellt sind. In der Tradition von Regisseuren wie Larry Clark beobachtet Estes diese Kinder beim Erwachsenwerden und enthüllt hierbei meistens die schicksalhaften und dunklen Seiten dieser schwierigen Zeit im Leben. Alle Kinder haben ihre eigenen Probleme und Estes entwickelt daraus eine explosive Mischung, die auf sich alleine gestellt auf dem großen Fluss, innerhalb eines kleinen Bootes zu einer tickenden Zeitbombe wird. Ganz ohne Klischees kommt der Erstlingsregisseur allerdings nicht aus und die Figurenkonstellation ist eher ein repräsentativer Durchschnitt und dient vor allem dazu, möglichst viele verschiedene Konflikte rasch auf die Spitze zu treiben.

    Sam ist klein und schüchtern, aber auch ein gewissenhafter Junge und er hat ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder. Außerdem ist er in Millie verliebt, die ihm jedoch nicht ganz abgeneigt zu sein scheint. Rocky ist ebenfalls ein sensibler Teenager, der allerdings für seinen kleinen Bruder gerne den Beschützer heraushängen lässt. Marty lebt auch mit seinem älteren Bruder zusammen. Sein Vater hat sich das Leben genommen und Marty hat den Schock darüber noch längst nicht verwinden können. Diese Wunde wird später auf dem Boot eine schicksalhafte Rolle spielen. Clyde wächst bei seinen beiden schwulen Vätern auf und ist somit im provinziellen Oregon eine perfekte Zielscheibe für Spott. Und George selbst ist ein verwöhntes Balg, dass außerdem leicht zurückgeblieben ist, keine Freunde finden kann und sich so mit Gewalt seiner Frustration Luft machen muss. Als die Clique dies auf dem Ausflug herausfindet - im Grunde ist George ja einer von ihnen - wirkt der geplante Streich, ihn nämlich dazu zu bringen, nackt in den Fluss zu springen und ihn dann dort zurückzulassen, plötzlich nur noch halb so lustig. Doch natürlich kommt es ganz anders und es geschieht ein großes Unglück, für das alle später die Verantwortung übernehmen müssen.

    Die Faszination des Films bezieht sich vor allem aus der Spannung in dem kleinen Boot, wo die Situation schließlich komplett außer Kontrolle gerät. Die Dynamik, die die Freunde mit dem heimlichen Streich gegen den ahnungslosen George in Gang gesetzt haben verselbstständigt sich. Marty will auf keinen Fall den Plan aufgeben, doch als George davon erfährt, rastest er komplett aus. Was jedoch nach dem Unglück folgt, ist nun längst nicht mehr so faszinierend, wie noch zu beginnt. Leider fällt „Mean Creek“ gegen Ende hin etwas auseinander, als wir unsere Teenager beobachten, wie sie mit dieser Tragödie umzugehen versuchen und sich dadurch vollständig voneinander entfernen und entfremden. Leider gibt Estes dann keinen weiteren Ausblick darauf, was die Konsequenzen sein werden. Zwar beschäftigt er sich noch weiter mit der Gruppendynamik nach der Katastophe, allerdings liefert dies keine befriedigende Antwort. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich, dennoch lässt sich deutlich der Verlust an Energie im zweiten Teil herausspüren, was eindeutig den Gesamteindruck des Films schmälert. Dies ist allerdings weder den Schauspielern noch der Atmosphäre oder gar der Inszenierung anzulasten. Estes verwendet seine ganze kreative Kraft darauf, den Moment zu zeigen, bei dem die „Kacke auf den Ventilator“ trifft, wie die Amerikaner so schön sagen, doch danach geht seine Fantasie etwas flöten. Dennoch lässt sich mit Sicherheit sagen, dass „Mean Creek“ bis dahin schon mehr geleistet hat, als viele andere Filme der aktuellen Kinocharts.

    Zu erwähnen sind vor allem noch die tollen Schauspieler. Rory Culkin („Signs - Zeichen“) wirkt erwachsen und unglaublich fokussiert. Für einen Schauspieler seines Alters ist dies wirklich erstaunlich. Sein Sam ist das Gewissen im Boot. Scott Mechlowicz, bislang nur bekannt aus der Teenie-Klamotte „Eurotrip“, gibt seinem Marty eine grüblerische, dunkle und gleichzeitig unberechenbare und hitzköpfige Seite. Ryan Kelley ist der Sanftmütige und spielt fantastisch um die Klischeehaftigkeit seiner Figur herum. Doch im Gedächtnis bleibt vor allem Josh Peck als der „Bully“, der eine mutige und farbenfrohe Darstellung eines vernachlässigten, einsamen Kindes gibt, dem nur zur richtigen Zeit ein nettes Wort gefehlt hätte.

    Kurzum: „Mean Creek“ ist spannend und dicht und obwohl alle Zutaten des Drehbuchs ein Konstrukt bleiben, gewinnt die realistische Inszenierung und die Menschlichkeit die Oberhand. Was bleibt, sind die Erinnerungen an die eigene Kindheit - ob gut oder schlecht - und die vielfältigen Fragen nach Verantwortung und Moral.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top