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    Sturz ins Leere
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Sturz ins Leere
    Von Carsten Baumgardt

    15 Jahre lang kursierte das Projekt in allen erdenklichen Filmstudios. Sally Fields Produktionsfirma Fogward Films hatte eine Option auf die Verfilmung von Joe Simpsons Bestseller „Touching The Void“. Tom Cruise war für die Hauptrolle vorgesehen. Doch am Ende kam alles ganz anders. Der für seinen Dokumentarfilm „Ein Tag im September“ mit einem Oscar ausgezeichnete Kevin MacDonald erhielt den Regie-Zuschlag von den britischen Produktionsfirmen Darlow Smithson Productions und Film Four, die sich mittlerweile die Rechte an dem Buch gesichert hatten. MacDonald machte aus den realen Erlebnissen des Bergsteigers Simpson - der 1985 bei der Besteigung des Siula Grande in Peru nur durch ein Wunder dem Tod entkommen war - das packende Doku-Drama „Sturz ins Leere“, das durch seine mitreißende Intensität fesselt.

    Die Engländer Joe Simpson (21) und Simon Yates (25) brechen am 20. Mai 1985 in den peruanischen Anden zu ihrem größten Abenteuer auf. Die beiden sind erfahrene Bergsteiger, die aber bisher nur in den Alpen geklettert sind. Die Besteigung des 6.356 Meter hohen Siula Grande über die noch unbezwungene, fast 1.400 Meter hohe, extrem schwierig zu kletternde Westwand soll ihr Karrierehöhepunkt werden. Dass sich kaum einer an der anspruchsvollen Route versucht hat, lässt die selbstbewussten Briten kalt. Mit großem Enthusiasmus gehen sie ihre Expedition an. Sie steigen im modernen, alpinen Stil, der am umweltschonendsten für den Berg ist. Vom 4.570 Meter hoch gelegenen Basislager aus, das von ihrem flüchtigen Bekannten Richard Hawkins in der Zwischenzeit bewacht wird, arbeiten sie sich in den Berg vor – ohne vorher Fixseile zu befestigen. Die sportliche Herausforderung des alpinen Stils ist weit größer, aber das Unternehmen dadurch auch wesentlich gefährlicher. Nach dreieinhalb Tagen erreichen Simpson und Yates mit viel Mühe den Gipfel. Die spezielle Art von Pulverschnee, wie er nur in den Anden vorkommt, macht die Besteigung so riskant. Beim Abstieg geschieht das Drama. Simpson rutscht bei dem Versuch, seinen Eispickel in der Wand zu fixieren aus und stürzt einige Meter ab. Beim Aufprall zerschmettert er sich Bein und Knie. Der Oberschenkelknochen hat sich durch den Druck nach unten in das Knie gebohrt. Beide wissen, dass dies praktisch das Todesurteil ist. Auf der nahezu senkrecht abfallenden vereisten Felswand gibt es mit einem gebrochenen Bein kein Entkommen...

    Kevin MacDonald traf beim Herantasten an das Projekt eine weise Entscheidung. Er verzichtete darauf, Joe Simpsons hochdramatischen Erlebnis-Bestseller als reine Spielfilmhandlung anzulegen. Ein Zwei-Personen-Stück, bei dem beide die meiste Zeit unabhängig voneinander agieren, hätte auf der Leinwand nicht funktioniert. Deshalb greift er zu einer Zwischenform. Die realen Joe Simpson, Simon Yates und Richard Hawkins interviewte MacDonald zwei Tage lang in einem Londoner Studio und filmte die Erzählung ihrer Geschichte ausschließlich in direkten, schnörkellosen Nahaufnahmen. Diese Szenen dienen „Sturz ins Leere“ als Rückgrat. Zwischen diese Bilder schneidet MacDonald nachgestellte Sequenzen, die er mit den bergerfahrenen Schauspielern Brendan Mackey (als Joe Simpsons jüngeres Ego) und Nicholas Aaron (als Simon Yates) an Originalschauplätzen am Siula Grande in Peru sowie in den französischen Alpen unter schwierigsten klimatischen Bedingungen drehte. Teilweise sprechen Simpson, Yates und Hawkins ihren Kommentar, der sich dankenswerterweise durch britisches Unterstatement statt hollywood’schem Pathos hervortut, über die nachgestellten Aufnahmen.

    Durch diese Konstruktion funktioniert „Sturz ins Leere“ als dramatische Dokumentation hervorragend. MacDonald zeigt fantastisch-majestätische Landschaftsaufnahmen, schwelgt aber nicht darin, um die dramatische Komponente nicht zu verwässern. Die nachgestellten Szenen sind so perfekt realitätsnah, wie es möglich ist. Durch das Zusammenwirken von Originalkommentar und Spielfilmszenen entsteht eine ungeheure Intensität, die den Zuschauer förmlich in einen Sog zieht. Der Moment, in dem sich Simpson auf der Leinwand das Bein zertrümmert, hat eine derart schmerzhafte Wirkung auf den Betrachter, dass dieser gar nicht mehr weiß, wo er auf den Kinosessel noch nervös hinrutschen soll. Intensiver kann Kino nicht sein. Den qualvollen Schmerz, den Simpson erlitten hat, kann jeder nachvollziehen.

    Dass Joe Simpson trotz auswegloser Situation überlebt hat, ist offensichtlich. Also konzentriert sich „Sturz ins Leere“ darauf, die folgende dreieinhalb-tägige Qual seiner Rettung zu dokumentieren. Nachdem Yates in einer mutigen Ein-Mann-Rettungsaktion versucht hatte, seinen Freund doch noch irgendwie von dem Massiv zu bekommen, stecken beide bald in einer Todesfalle. Yates ließ Simpson unter unmenschlichem Kraftaufwand den Berg hinunter. Doch auf einmal geht es nicht weiter, Simpson hängt hilflos - nur durch Yates gehalten - über einem Felsvorsprung direkt über einer riesigen Gletscherspalte, die sich 25 Meter unter ihm auftut. Nach anderthalb Stunden ist Yates am Ende seiner Kräfte. Er begeht den größten Tabubruch, den es im Bergsteigen gibt, und schneidet seinen Freund vom Seil – im Wissen, dass dies dessen sicheren Tod bedeutet. Sonst hätte es beide erwischt. Simpson stürzt in die Gletscherspalte, überlebt aber wie durch ein Wunder. Währenddessen steigt Yates frustriert und traumatisiert von der Schuld ins Basislager ab. Dieser Tabubruch brachte ihn später schwer in die Kritik. Der Alpenverein wollte Yates ausschließen und in der Presse sah er sich harschen Anfeindungen gegenüber. Doch sein Freund Simpson verteidigte ihn tapfer, sagte, dass er das gleiche getan hätte.

    Mehr als die Hälfte des Films schildert das Martyrium, das Simpson nach seinem Sturz in die Gletscherspalte durchlebt. Obwohl die Situation völlig aussichtslos ist, schafft er es, durch unbändigen Überlebenswillen weiterzumachen. Er setzt sich immer wieder 20-Minuten-Ziele. Dann will er den nächsten fixierten Punkt erreichen. Von der Verletzung und der Dehydrierung gezeichnet, schleppt er sich qualvoll langsam voran. Der Zuschauer leidet mit, der reale Joe Simpson gewährt dabei einen Einblick in seine Gedankenwelt, was er während der Tortur gefühlt hat.

    Obwohl der Ausgang bekannt ist, leidet die Spannung darunter nicht. Zu packend ist die Inszenierung MacDonalds, dem mit „Sturz ins Leere“ in Großbritannien die kommerziell erfolgreichste Dokumentation aller Zeiten gelang (noch vor „Bowling For Columbine“). Vorzuwerfen gibt es dem Film wenig. Bei Simpsons Selbstrettung hätte MacDonald auf die ein oder andere Einstellung verzichten können. Immer und immer wieder zeigt er, wie Simpson nach jedem peinigenden Schritt kopfüber auf der Nase landet. Irgendwann hat der Zuschauer dies verstanden. Auch wenn das Wiedersehen mit den Kameraden nüchtern inszeniert ist, wird es dennoch zum emotionalen Höhepunkt des Films. Der Betrachter freut sich mit den Protagonisten. „Sturz ins Leere“ berührt, nimmt mit und fesselt. Mehr ist von einem Doku-Drama kaum zu erwarten. Kevin MacDonald gelang ein mitreißender wie nüchterner Film, der zum Glück nicht den Gesetzen Hollywoods unterliegt und mehr durch die Wucht der Geschichte überzeugt als durch übersteigertes Pathos à la „Vertical Limit“... Simpson benötigte übrigens zwei Jahre und sechs Operationen, um sich von der Verletzung zu erholen. Das Bergsteigen hat er nie aufgegeben...

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