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    Oliver Twist
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Oliver Twist
    Von Lars Lachmann

    Als französisch-englisch-tschechische Co-Produktion präsentiert sich Roman Polanskis Literaturverfilmung von Charles Dickens‘ Klassiker „Oliver Twist“. Im Hinblick auf die Frage nach der Aktualität des Stoffes, welcher schon seinerzeit in den Anfängen der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts einen gewissen Grad an Zivilisationskritik enthielt, fällt vor allem der drastische Unterschied zwischen Arm und Reich ins Auge, der die Figuren des Dramas mitunter zu Opfern ihrer Lebensumstände werden lässt. Ob das Sujet des Films sich gar als Warnung eingedenk der Tatsache verstehen lässt, dass nach wie vor Menschen an Orten dieser Welt unter ähnlich unwürdigen Verhältnissen ihr Dasein fristen müssen, wie die Protagonisten des Dramas – sowie hinsichtlich einer fortschreitenden gegenwärtigen Tendenz zum Sozialabbau in den Ländern des heutigen Europa, welchen es ja immerhin gelungen ist, das Ausmaß des Elends im Laufe ihrer bisherigen Geschichte erheblich einzudämmen –, dies bleibt letztlich dem Urteil des Zuschauers überlassen.

    Der Waisenjunge Oliver Twist (Barney Clark) wächst unter ärmlichen Verhältnissen auf und wird im Alter von neun Jahren – wie viele seiner sozial niedrig gestellten Altersgenossen – als billige Arbeitskraft in eine staatliche Manufaktur geschickt. Der Arbeitstag ist lang und schwer und die Verpflegung im Gegenzug mehr als dürftig. Wenig Besserung verheißt ihm seine darauf folgende Position als Gehilfe des örtlichen Leichenbestatters, von dessen Lehrling, welcher kaum älter ist als Oliver, er aufgrund seiner sozial niedrigeren Stellung tyrannisiert wird. Einzig der Meister selbst zeigt ansatzweise Mitleid mit dem Jungen. Als es infolge einer Rauferei zwischen Gehilfe und Lehrling gilt, ein faires Urteil zu fällen, stellt er sich jedoch als Feigling heraus, der es nicht wagt, seiner Frau zu widersprechen, die in Oliver den alleinigen Übeltäter sieht. Als die Situation unerträglich für ihn wird, beschließt Oliver, davonzulaufen und sich zu Fuß auf den weiten Weg nach London zu machen. Dort angelangt, wird er von einem etwas älteren Jungen (Harry Eden), der sich ihm als „The Artful Dodger“ vorstellt, sogleich in eine Gemeinschaft von Straßenkindern rekrutiert, die vom alten Fagin (Ben Kingsley) in der Kunst des Taschendiebstahls ausgebildet werden. Auch der skrupellose Bill Skyes (Jamie Foreman) bedient sich ab und an der Jungen, um mit deren Hilfe Einbrüche in reiche Londoner Villen zu verüben. Das Blatt beginnt sich zu wenden, als ein wohlhabender Gentleman (Edward Hardwicke) sich des jungen Taschendiebes annimmt und beschließt, ihm sein Vertrauen zu schenken, ihn bei sich aufzuziehen und im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Doch Bill und Fagin haben andere Pläne für die Zukunft des jungen Oliver...

    Roman Polanski und sein Team, welches ihm zum Teil bereits bei der Produktion seines viel gepriesenen Dramas Der Pianist zur Seite stand, zeigt bei der Umsetzung von Dickens‘ Vorlage viel Hingabe und Liebe zum Detail. Dies zeigt sich schon an der Verwendung von zeitgenössischen Buchillustrationen, die während des Vor- und Abspanns als Standbilder eingestellt werden und sich nahtlos in die nachfolgenden bzw. vorhergehenden Leinwandbilder des Films einfügen. Besondere Erwähnung verdient die aufwendige Kulisse Londons, die zu großen Teilen am Set in Tschechien so originalgetreu wie möglich nachgebaut wurde. Polanski und Produktionsdesigner Allan Starski orientierten sich dabei sowohl an Archivmaterial wie alten Stadtplänen sowie Gemälden aus der Epoche, die bereits deutliche Spuren des Übergangs von der ländlichen Idylle zur industriellen Revolution erkennen lassen. Die gleiche Umsicht ließ die Kostümbildnerin Anna Sheppard („Der Pianist“, Schindlers Liste) beim Entwurf der zeitgenössischen Bekleidung für alle handelnden Figuren – bis hin zu den Komparsen – walten. All diese Feinheiten erzeugen, im Zusammenspiel mit dem von Rachel Portman komponierten Score und einer hervorragenden Kameraarbeit, die sehr dichte und zum Teil düstere Atmosphäre des Dramas.

    Nicht zuletzt das Aufgebot an Schauspielern weiß ihren Teil zum Gelingen des Projekts beizutragen. Allen voran der 13-jährige Barney Clark, welcher in der Hauptrolle des Oliver ein überzeugendes Debüt abliefern konnte. Neben den bekannten britischen Charakterdarstellern Edward Hardwicke („Elizabeth“, Tatsächlich Liebe) und Jamie Foreman („Sleepy Hollow“, Layer Cake) brilliert der Ausnahmedarsteller Ben Kingsley (vor Kurzem noch neben Jennifer Connelly in Das Haus aus Sand und Nebel zu bewundern) diesmal in der ambivalenten Rolle des Fagin, für welche sich keine bessere Besetzung denken ließe.

    Für die Drehbuch- adaption gelang es Polanski erneut, Ronald Harwood zu verpflichten, der neben seiner Drehbuchfassung von „Der Pianist“ auch mit seiner Umsetzung des Theaterstücks „Taking Sides – Der Fall Furtwängler“ Erfolge feiern konnte. Trotz des Bestrebens, sich innerhalb des zweistündigen Kinofilms so gut wie möglich an Dickens‘ Vorlage anzunähern, erwiesen sich im Vergleich zur Romanhandlung einige Kürzungen als unerlässlich, so dass einige Nebenstränge der Handlung entfallen mussten. Dabei wird die Geschichte kontinuierlich aus Olivers Sicht erzählt. Neben den für Dickens so typischen, überzeugend inszenierten, tragikomischen Figuren akzentuiert das Drehbuch vor allem das Porträt der damaligen Gesellschaft mit seiner Kluft zwischen Arm und Reich.

    Auch wenn Polanski seine Verfilmung des Stoffes selbst als Kinderfilm einstuft, sollte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass bei „Oliver Twist“ – trotz eines milderen Endes als im Roman, bei welchem das poetische Gleichgewicht wiederhergestellt wird und unser Held trotz aller vorherigen Entbehrungen wahre menschliche Größe zeigt – ebenso die dunklen Aspekte der Romanvorlage zur Geltung kommen, die sich eben auch durch die doch sehr authentische Darstellung von körperlicher und seelischer Grausamkeit auszeichnet. Aus diesem Grund ist ein Kinobesuch trotz der Freigabe ab sechs Jahren doch eher älteren Kindern ab zehn oder zwölf Jahren zu empfehlen.

    Anmerkung der Redaktion: Der deutsche Verleih Tobis untersagt die Verwendung von US-Bildmaterial, welches aus diesem Grund wieder von dieser Seite entfernt werden musste. Für den deutschen Onlinemarkt dürfen nur speziell freigegebene Bilder verwendet werden, auf die wir an dieser Stelle allerdings ebenfalls verzichten. Näheres zu diesem Thema hier.

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