Rainer Werner Fassbinder, neben Werner Herzog, Wim Wenders und Volker Schlöndorff einer der zentralen Regisseure des Neuen Deutschen Films, hat in der Zeit von 1972-74 den vielleicht wichtigsten deutschen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts verfilmt, nämlich Theodor Fontanes „Effi Briest“.
Roman und Film behandeln die Geschichte der Ehe zwischen der siebzehnjährigen Effi Briest (Hanna Schygulla, Winterreise) und dem deutlich älteren Baron Geert von Instetten, die von Effis Mutter initialisiert wurde und von Anfang an durch ein ungleiches Verhältnis der Ehepartner bestimmt wird. Effi, die „Tochter der Luft“, sehnt sich nach immer Neuem, wünscht sich stets das „Aparte“, wohingegen Instetten auf seinen beruflichen Erfolg und den damit verzahnten gesellschaftlichen Aufstieg konzentriert ist. Gleich zu Beginn des Romans ziehen beide nach Kessin in ein abgelegenes, schlichtes Haus und für Effi beginnt eine Zeit der Monotonie und Langeweile, die aufgrund der häufigen Abwesenheit Instettens zu einem Gefühl des Alleinseins wird. Diese Situation nutzt der „Damenmann“ Major Crampas, um Effi zu verführen. Als dieser Ehebruch sechs Jahre später – das Paar wohnt bereits in Berlin – von Instetten aufgedeckt wird, fordert er Crampas zu einem Duell; er tötet seinen ehemaligen Nebenbuhler und verstößt Effi, deren Tochter er bei sich behält. In der nun folgenden Zeit der gesellschaftlichen Isolation wird Effi mehr und mehr leblos und verliert ihre anfängliche jugendliche Begeisterung für die Welt und das Leben („Ich bin für das Leben“). Schließlich kehrt sie nach Hohen-Cremmen auf das Gut ihrer Eltern zurück und stirbt dort.
Fontane nutzt das in der Literatur seiner Zeit vielfach bemühte Motiv des Ehebruchs, um Kritik an den gesellschaftlichen Konventionen des Kaiserreichs zu üben. Die Unterdrückung der Frau ist ein zentrales Thema des Romans, aber auch der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft als Grundvoraussetzung des Daseins spielt eine wesentliche Rolle. Immer wieder tauchen im Text die Werte des Preußentums auf: Militarismus, Obrigkeitstreue, Karrieredenken. Die Art und Weise, in der Fontane die Geschichte Effis erzählt und die gesellschaftliche Kritik übt, ist das eigentlich Besondere an dem Werk; der Autor erzählt überwiegend indirekt, transportiert den Großteil des Inhalts über Dialoge und Briefe, und kreiert eine komplexe Welt aus Zeichen und Symbolen (der spukende Chinese, der Schloon, das Motiv der Luft,...). Mit diesem Komplex aus Symbolen und den verschiedenen subjektiven Wahrheiten seiner Figuren verweist Fontane vielschichtig auf das nicht Darstellbare, und gibt somit einen Blick auf die Dinge hinter den Dingen frei.
Gerade die Tatsache, dass Effis Protest nicht zur Auflehnung wird, sondern sich den Regeln des Gesellschaftssystems beugt, macht ihre Geschichte so ergreifend. An dieser Stelle findet sich Rainer Werner Fassbinders Ansatz zu seiner Interpretation des Werkes, wobei schon der Untertitel seines Films seine Herangehensweise an das literarische Ausgangsmaterial deutlich macht: „Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.“ Das leitmotivische Thema in den meisten der vielen Filme Fassbinders ist das gesellschaftskritische Moment. Der Regisseur sieht in Deutschland das Vorhandensein einer negativ zu bewertenden Kontinuität, die bereits im Kaiserreich beginnt und – unter jeweils anderen Vorzeichen – bis in Fassbinders Gegenwart Bestand hat: die Unterordnung der Deutschen unter ein gesellschafts-politisches System und die damit verbundene fatale Treue zur Obrigkeit. Der preußische Militarismus, der Nationalsozialismus, dann der Kapitalismus. Fassbinder wirft den Deutschen vor, die Chance zum Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wahrgenommen zu haben (was er sehr gelungen in seiner BRD-Trilogie umsetzt) und blickt mit „Fontane Effi Briest“ in der deutschen Geschichte zurück, um die von ihm gefühlten Missstände in ihren Wurzeln zu dokumentieren. Er projiziert Fontanes Geschichte auf die Gegenwart der Entstehungszeit seines Films, also die Zeit um 1972-74.
Da Fassbinders Filme einen geschichtspolitischen und gesellschafts-kritischen Anspruch haben, ist es nicht verwunderlich, dass der Autorenfilmer Fontanes Roman auf den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft verdichtet und andere Aspekte der Romanhandlung in den Hintergrund stellt. Im Prinzip ist „Fontane Effi Briest“ ein Zwei-Personen-Film, die zahlreichen anderen Charaktere des Buchs werden entweder ganz weggelassen oder stark verkürzt (etwa Effis Cousin aus Berlin, dessen Hintergrund im Film nicht beleuchtet wird). Diese Verengung des Textes durch Fassbinder legitimiert sich in der Tatsache, dass Fontane ähnlich vorgeht: er blendet ebenfalls Teile der Handlung aus, zum Beispiel wird Effis Ehebruch nur subtil angedeutet – die Schichten unter dem Verborgenen muss der Leser wie der Zuschauer eigenständig freilegen.
Fassbinders Transformation der Textvorlage in das Filmische stellt – insbesondere im Kontext der drei anderen Effi-Verfilmungen – eine Sonderform zwischen Werktreue, eigener Interpretation und den Möglichkeiten der intermedialen Kommunikation zwischen Literatur und Film dar. Sein Film, der nicht zufällig „Fontane Effi Briest“ heißt, ist ausdrücklich eine subjektive Interpretation, die ohne die Kenntnis des Textes als eigenständiger Film in weiten Teilen schwerlich nachvollziehbar sein dürfte; Fassbinder zwingt den Zuschauer zum „Lesen“ der Verfilmung und macht sich dabei literarische Techniken nutzbar, nimmt sogar die Erzählhaltung Fontanes ein. Die viel zitierten Weißblenden zu Beginn eines neuen Kapitels repräsentieren das Umblättern der Buchseiten, die Zwischentitel (Inserts) mit schwarzer Schrift auf weißem Grund (was beim Film in der Regel umgekehrt ist) müssen vom Zuschauer wie in einem Buch gelesen werden und die Offkommentare (gesprochen von Fassbinder) zitieren weite Passagen aus dem Originaltext. Die Dialoge des Films sind ebenso unverändert aus dem Roman übernommen, was auch durch Fontanes „filmische“ Dialoggestaltung ermöglicht wird, die den Autor im Tenor der Literaturwissenschaftler als Meister der natürlich wirkenden, sprachlichen Gestaltung etabliert hat. Den Ablauf der Handlung übernimmt Fassbinder, mit deutlichen Verknappungen, auch aus der Vorlage; die Rahmung des Geschehens durch den Handlungsort Hohen-Cremmen findet sich im Film wie im Text, genau wie die Stationen Kessin und Berlin. Sein Thema der Einengung des Einzelnen durch gesellschaftliche Zwänge verdeutlicht Fassbinder durch die Betonung der jeweiligen Stellen in Fontanes Text. Beispielsweise bei dem ersten Abendessen Effis mit Instetten in Kessin: als Effi sagt, dass es „neben kleinen Leuten doch auch eine Elite geben [müsse]“, blendet Fassbinder den Rest des Gesprächs aus und in einen Zwischentitel, der Effis Aussage als Text wiederholt und somit bekräftigt.
Eine weitere wichtige Stelle in diesem Zusammenhang ist das Gespräch zwischen Instetten und Wüllersdorf vor dem Duell. Diese Szene nimmt in Fassbinders Film einen langen Zeitraum ein und wird dadurch in ihrer zentralen Rolle betont. Es geht in dem Dialog nämlich um den Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft, wobei Wüllersdorf feststellt: „[...] unser Dienst ist ein Götzendienst, aber wir müssen ihn solange ausführen wie der Götze gilt“. Das folgende Bild des Films zeigt den tödlichen Schuss Instettens auf Crampas in einer Nahaufnahme der Pistole – Fassbinder führt den Götzendienst ein und zeigt sogleich die destruktive Auswirkung desselben auf den Menschen, womit er ihn als negativ bewertet. Während des langen Gesprächs blendet der Film immer wieder einen fahrenden Zug ein und schließlich sogar den Weg zum Ort des Duells. Damit macht Fassbinder die betäubende Notwendigkeit von Instettens Handeln deutlich, einzig legitimiert vom und gefordert durch den „Götzendienst“ für die Gesellschaft. Mit derselben brutalen Konsequenz muss Effi aufgrund ihres Handelns am Ende sterben.
Ein überaus fruchtbarer Zugang zur Intention Fassbinders ist die Bildsprache von „Fontane Effi Briest“. Die Bilder des Films sind weitgehend unbewegt, abgesehen von den Kutschfahrten verharrt die Kamera in fast allen Szenen statisch auf dem Geschehen. Und auch die Figuren des Films sind meistens regungslos. Programmatisch ist die erste Begegnung zwischen Effi und Gieshübler, als diese sich am Ende ihres Gesprächs für längere Zeit bewegungs- und wortlos gegenüber sitzen. Die Leitmotive der Bildgestaltung – vor allem die Aufnahmen durch Gitter hindurch und die zahlreichen Spiegelungen – stehen mit Fassbinders Interpretation in Einklang. Durch den Einsatz der Spiegel in Gesprächen kann auf das ansonsten übliche Schwenken der Kamera oder das Zerschneiden der Szene in Aufnahme und Gegenaufnahme verzichtet werden; außerdem erscheinen die Figuren wie im Dialog mit sich selbst – und damit am Gegenüber vorbei. Das Eingesperrtsein der Figuren wird zum einen durch die Gitteraufnahmen (in vielen Varianten) bildsprachlich umgesetzt, zum anderen durch die mehrmals auftauchenden Gipsfiguren und nicht zuletzt die Enge der Handlungsräume. Der Raum ist in Fassbinders Film auf die inneren Befindlichkeiten der Figuren gerichtet. Indem der Regisseur das Bild durch das Anschneiden von blickverstellenden Gegenständen im Vordergrund oder das Filmen durch Vorhänge hindurch verkleinert, schafft er eine bedrückende Atmosphäre der Enge.
Nimmt man diese filmgestalterischen Mittel zusammen und fügt das emotionslose Spiel der Darsteller sowie den Handlungsablauf ohne wirkliche Höhepunkte hinzu, wird Fassbinders Film zu einer Literaturverfilmung, die bewusst Distanz zum Zuschauer aufbaut und ihn somit zum Sinnstiften drängt. Es liegt beim Betrachter, die Diskrepanzen zwischen Wort und Bild in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Durch die kluge Inszenierung und die gelungene Verdichtung der Handlung auf Fassbinders zentrales Thema, liegt mit „Fontane Effi Briest“ eine Literaturadaption vor, die Fassbinders Ansicht über Verfilmungen einer Textvorlage eindrücklich demonstriert: Literaturverfilmung heißt für Fassbinder nicht die bloße Bebilderung des Geschriebenen, um eine möglichst große Schnittstelle der Phantasiegebilde der Leser zu erreichen, sondern die Möglichkeit einen Film zu machen, der den Rezipienten herausfordert; ein Film eben, bei dem „das Denken nicht aufhört, sondern anfängt.“