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    Elephant
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Elephant
    Von Jürgen Armbruster

    Liebe Leser! Von einer Filmstarts-Kritik sind Sie sicherlich gewohnt, dass Ihnen die Informationen geboten werden, die Ihnen die Entscheidung über einen Kinobesuch möglichst einfach macht. Eine detaillierte Wiedergabe des Inhalts, eine Bewertung der darstellerischen Leistungen, technische Schwächen und Vorzüge... eben all jenes, an dem sich möglichst objektiv die Qualität eines Filmes festmachen lässt. Doch diese Dinge können wir Ihnen dieses Mal leider nicht bieten, denn Gus van Sants „Elephant“ ist zu außergewöhnlich, um gewöhnliche Maßstäbe anlegen zu können.

    Im Vorspann distanzieren sich die Macher von „Elephant“ zwar ausdrücklich von in der Realität stattgefunden Ereignissen und weisen eventuell erkennbare Parallelen von sich, doch nennen wir das Kind einfach beim Namen: Ohne Littleton hätte es „Elephant“ nie gegeben. Littleton, jener schwarze Tag in der amerikanischen Geschichte, das Pendant zu unserem Erfurt, dürfte jedem noch in lebhafter Erinnerung sein. Da gehen diese zwei Jungen Dylan Klebold und Eric Harris morgens noch in aller Seelenruhe zum Bowling, nur um wenige Stunden später an der Columbine High School für ein Massaker zu sorgen, in dessen Verlauf zwölf Schüler und ein Lehrer ermordet und zahlreiche Kinder und Jugendliche schwer verletzt wurden. Michael Moore griff diese Thematik in seiner satirischen Dokumentation „Bowling For Columbine“ bereits auf, doch van Sant geht noch einem Schritt weiter. Während bei Moore Littleton nur der Ausgangspunkt für eine ironische Reise durch die Narreteien des amerikanischen Volkes war, dreht sich bei van Sant alles um sein „fiktives“ Massaker. Sprich: Dort wo van Sant aufhört, begann Moore erst.

    Eine wirkliche Handlung existiert bei „Elephant“ nicht. Was man sieht, wirkt über weite Strecken, wie der Alltag an einer ganz normalen High School. Der Zuschauer beobachtet den Smalltalk dreier Mädchen, wie Bilder für die Schülerzeitung gemacht werden und sich das frisch verliebte Pärchen für den Abend verabredet. Es wird geredet und geflirtet. Diese Sequenzen hätte van Sant an jeder beliebigen Schule in jedem beliebigen westlichen Staat drehen können. Um diesen Eindruck zu unterstützen, lässt er seine Darsteller sich gegenseitig mit ihren realen Vornamen ansprechen. So etwas wie Rollennamen gibt es nicht. Was man sieht, ist pur und unverfälscht. Ob nun Littleton oder Erfurt. London oder Berlin. New York oder Los Angeles. Der Drehort hätte beliebig ausgetauscht werden können. Ein Unterschied wäre wohl keinem aufgefallen, würde der schulische Alltag sein grausames Finale nicht in einem schrecklichen Massaker finden.

    Da sind sie also, die zwei zukünftigen Amokläufer Alex (Alex Frost) und Eric (Eric Deulen). Man sieht sie, weiß was sie in Kürze tun werden, doch auf den ersten Blick sehen sie aus, wie viele andere Schüler. Die Frage, die sich geradezu aufdrängt, die Frage nach den Gründen, die junge Menschen zu einer solchen Tat bewegen, wird nicht einmal ansatzweise beantwortet. Van Sant maßt es sich nicht an, Ursachenforschung zu betreiben. Stattdessen verarbeitet er in „Elephant“ alles, was von den vermeintlichen Fachleuten als Missstände in der heutigen Jugend angeprangert wird. Gewaltverherrlichende Computerspiele und Filme, Heavy Metal, extremistische Tendenzen und eine verstörte Libido irgendwo zwischen Hetero- und Homosexualität. Doch dies allein wäre für van Sant zu simpel und zu sehr Schwarz-Weiß-Malerei, zu sehr Wasser auf den Mühlen all jener Moralapostel, die sich durch „Elephant“ all zu sehr bestätigt fühlen würden. Stattdessen lässt van Sant Alex - während Eric virtuell am Rechner fröhlich vor sich her meuchelt - am Klavier Beethovens „Für Elise“ üben. Ein gebildeter, kultureller Amokläufer? Ein Schlag ins Gesicht für all jene, die der Meinung waren zu wissen, was gut und was schlecht ist und wo sich die Grenze zwischen diesen beiden Extremen befindet.

    Die eigentliche Tat läuft unterkühlt und distanziert ab. Minutenlang beobachtet der Zuschauer das Massaker, indem er gemeinsam mit der Kamera den Protagonisten folgt und nur mit einer Einstellung über deren Schultern Einblick in die Szenerie erhält. Was sich in Eric und Alex abspielt, kann der Zuschauer allenfalls erahnen. Mehr als ihre Silhouetten bekommt er zumeist nicht zu sehen. Und doch sind sie hin und wieder da, diese Momente, in denen die Menschlichkeit in einem der beiden nach außen dringt. So beispielsweise, als sie auf den Weg zur Schule den entgegen kommenden John mit einem kurzen „da würde ich jetzt nicht hin gehen“ vor dem Kommenden warnen.

    Warum van Sant sein Werk „Elephant“ nennt, ist ein weiteres Rätsel des Films. Vielleicht, weil sich der Elefant ebenso wie die am Massaker direkt und indirekt Beteiligten als Dickhäuter beschreiben lässt, der gegen Einflüsse von außen beinahe resistent ist und sie kaum noch wahr nimmt? Die einzige Reaktion, die einer der Väter zeigt, als ihn sein Sohn mit dem eben Geschehen konfrontiert, ist ein simples „Oh mein Gott“, das sich anhört, als ob gerade der Hund vom Nachbarn überfahren wurde. Oder vielleicht, weil ein Elefant genau so wie Littleton oder Erfurt große Spuren hinterlässt und die Folgen seiner Anwesenheit noch lange nachwirken? Oder eventuell auch, weil sich die Ankunft eines Elefanten im allgemeinen frühzeitig ankündigt? Will uns van Sant mit dem Titel „Elephant“ sagen, dass man Littleton hätte vermeiden können, wenn man nur wachsamer gewesen wäre? Eine Frage, auf die jeder für sich selbst eine Antwort finden muss.

    Es steht in den Sternen, warum sich Gus van Sant nach seinen eher seichten und leicht verdaulichen Dramen „Finding Forrester“ und „Good Will Hunting“ ausgerechnet einem so provokanten Thema widmete. Fest steht allerdings, dass er seine Sache gut gemacht hat. Er machte das einzig Richtige. Er ging die Thematik nicht mit Samthandschuhen, sondern mit dem großen Vorschlaghammer an. „Elephant“ ist alles, aber kein Unterhaltungsfilm. Er ist vielmehr eine kompromisslose Gesellschaftskritik und Milieustudie. Eigentlich sollte man sich „Elephant“ in einer großen Gruppe anschauen und anschließend über diesen Film reden, denn er sorgt für einen immensen Diskussionsbedarf. Spätestens als van Sant im Abspann den bewölkten Himmel über der Schule zeigt und erneut Beethovens Mondscheinsonate erklingt, überschlagen sich die Gedanken in einem förmlich, womit van Sant sein Ziel erreicht hat. „Elephant“ ist ein Film der Extreme. Es wird mit Sicherheit keine Seltenheit sein, das Teile des Publikums die Vorführungen frühzeitig verlassen. Doch dies mag daran liegen, dass nicht jeder dem Gesehenen auch gewachsen ist. Sie sollten schon wissen, auf was sie sich einlassen, wenn sie eine Karte für „Elephant“ kaufen. Einfach ist dieser Film nicht...

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