Wozu braucht man schon einen Brad Pitt, Tom Cruise oder Leonardo DiCaprio, wenn man genauso gut auch Pinguine nehmen kann? Momentan scheinen die schwarz-weißen Antarktisbewohner Hollywoods sicherste Hitlieferanten zu sein: Egal, ob die Königspinguine in Die Reise der Pinguine, die zweiterfolgreichste Dokumentation aller Zeiten am amerikanischen Box Office, die kommunistischen Pinguine in Madagascar, der fast 200 Millionen Dollar allein in den USA einspielte, oder die steppenden Vertreter im Animationsmusical Happy Feet, das am Startwochenende gar den zeitgleich angelaufenen James Bond 007 – Casino Royale auf die Plätze verwies, stets schwimmen unsere gefiederten Freunde ganz weit oben auf der Erfolgswelle mit. Und das muss auch der Grund dafür gewesen sein, warum Regisseur George Miller („Mad Max", „Schweinchen Babe in der großen Stadt") seinen Film in der radikalen Form verwirklichen konnte, in der er nun in unsere Kinos kommt: Alles, was die Geldgeber interessierte, waren wohl die süßen Pinguine, die allein schon den wirtschaftlichen Erfolg sicherstellen sollten, während Miller ansonsten absolut freie Hand erhielt. Anders ist es kaum vorstellbar, wie ein so kritischer, düsterer und oft auch bitterböser (Kinder?-)Film in Hollywoods berechnendem Studiosystem trotz Produktionskosten in der stattlichen Höhe von geschätzten 85 Millionen Dollar überhaupt das Licht der Leinwand erblicken konnte.
Bei den Kaiserpinguinen dreht sich alles um ihr Herzenslied – jeder von ihnen hat seinen eigenen, ganz speziellen Song, den er nicht nur den ganzen lieben langen Tag hindurch trällert, sondern der auch noch sein Liebesleben und seinen Stand in der Pinguingesellschaft bestimmt. Doch dann kommt Mumble: Mumble kann überhaupt nicht singen, sein Herzenslied ist vielmehr ein hinreißender Stepptanz! Bei seinen engstirnigen Pinguinkameraden kommt diese ungewöhnliche Fähigkeit allerdings gar nicht gut an. Als Mumble mit seinem erbärmlichen Gekrächze beinahe seinen Abschlussball ruiniert, haut er endgültig ab. So landet er bei Ramon und seinen Latinofreunden – für diese Adelie-Pinguine ist Tanzen das Allergrößte und Mumble wird hier wegen seiner geschmeidigen Moves sofort geachtet. Gemeinsam mit seinen neuen Kumpanen wagt Mumble die Rückkehr und tatsächlich gelingt es ihm, viele andere Pinguine mit seiner groovigen Art anzustecken. Dem Ältesten, Noah, gefällt das neue Gedankengut jedoch gar nicht. Er sieht seine Macht schwinden und verbannt Mumble deshalb mit der Begründung, der Fischmangel wäre nur eine Bestrafung des Großen Pinguins für sein steppendes Lotterleben...
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Werbekampagne und Trailer zu „Happy Feet" zeigen in erster Linie süße Pinguine, die lustig singen, tanzen und steppen. Und wirklich machen die Musical- und Komödien-Einlagen einen beachtlichen Teil des Films aus. Dabei fällt als erstes die beeindruckende und mitreißende Inszenierung der Musiknummern ins Auge: Sind ausschweifende Kamerafahrten schon in Realfilmmusicals ein gern verwendetes Stilmittel, zieht Miller – von jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit befreit – in seiner Animationswelt wirklich jedes Register, um die aufwendig entworfenen und extrem abwechslungsreichen Choreographien von Savion Glover und Kelley Abbey möglichst wirkungsvoll in Szene zu setzen. Aber nicht nur die filmische, auch die musikalische Seite der Showeinlagen ist geglückt. Schon die Songauswahl – von Stevie Wonder bis zu den Beatles, von Prince bis zu Queen, werden hier zahlreiche Stile der Populärmusik abgedeckt – überzeugt, aber die von John Powell arrangierten Pinguin-Interpretationen und Medleys sind so gut, dass sie selbst dem Moulin Rouge-Sound locker das Wasser reichen können. Und dank der atmosphärischen Popsongs erzielen auch die gefühlvollen Liebes- und Abschiedsszenen eine wesentlich stärkere emotionale Wirkung.
Neben diesen lustig-unterhaltsamen gibt es aber auch noch aufregend-düstere Abenteuer-Passagen. Wenn Mumble loszieht, um mit den „Aliens" (Menschen!) zu kommunizieren, sind viele Actionszenen so spannend und konsequent umgesetzt, dass man Kindern unter acht Jahren diese wohl lieber ersparen sollte. So sind die Verfolgungsjagd mit einem Seelöwen und der Angriff von Killerwalen hier keinesfalls in Ice Age-Manier entschärft, sondern verbreiten vielmehr eine existenziell-bedrohliche Atmosphäre. Auch wenn im Nachhinein die überstandene Gefahr durch ein paar Gags wieder aufgelockert wird, ist die Stimmung während dieser Szenen doch von extremer Intensität. In diesen Abschnitten merkt man auch erst richtig, dass hier nicht nur die Drehbuchautoren, sondern auch die technische Abteilung eine Meisterleistung vollbracht hat: Auch wenn eigentlich alle Bilder super aussehen, konnte man das volle Ausmaß der Genialität, das sich nun anhand von fast photorealistisch anmutenden Seeelefanten und Industrieanlagen offenbart, an dem blauen Himmel und der endlosen weißen Schneelandschaft zuvor nur schwer erkennen. Der Vergleich mit den Pixel-Magiern von Pixar muss hier keinesfalls gescheut, dürfte im Endeffekt sogar knapp gewonnen werden.
„Wenn wir fromm sind und an unserem Glauben festhalten, werden die Fische zurückkommen!" (Noah)
Endgültig vorbei mit der Familientauglichkeit – zumindest für die amerikanischen Christen – dürfte es sein, wenn man die Interpretationsebene des Films hinzunimmt, die sich bei „Happy Feet" nicht als süßliche „Moral von der Geschicht´", sondern als komplexe Allegorie entpuppt. Dabei benutzt Miller die Pinguine für eine kritische Sichtweise, die genau das Gegenteil von dem ausdrückt, was die US-Kirche sich aus Die Reise der Pinguine herausinterpretiert hat. Wurde nach dem Start der Dokumentation in Gottesdiensten noch gepredigt, dass die Treue und das selbstaufopfernde Verhalten ein Vorbild für jeden Christen sein sollten, wirft Miller nun einen etwas anderen Blick auf diese Gemeinschaft. In „Happy Feet" sind die Pinguine ein gleichgeschalteter Haufen, der blind seinem religiösen Führer folgt und sich stur und ausschließlich über seinen Glauben (das Herzenslied) definiert – alles Andersdenkende (Mumble) wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und als gotteslästerlich verdammt. Schade nur, dass ein Großteil der fundamentalistischen Christen nicht einmal merken wird, was für ein bitterböser Spiegel ihnen hier vorgehalten wird.
Was aus „Happy Feet" nicht nur einen sehr guten, sondern einen genialen und damit den besten Animationsfilm 2006 macht, sind die außergewöhnlichen letzten 20 Minuten, die man sich so in einem Hollywood-Familienfilm nicht einmal erträumt hätte. Hier muss sich „Happy Feet" mit seinen absolut irren und treffend-kritischen Pinguin-Science-Fiction-Elementen nicht einmal mehr vor literarischen Utopie-Klassikern wie „1984" oder „Brave New World" verstecken. Besonders eindringlich ist eine Szene, in der Mumble durch die Glassscheibe eines Aquariums hindurch die Menschen beobachtet – ein kongenialer Perspektivwechsel (genauso wie der Kinobesucher vorher die Pinguine, analysiert Mumble jetzt die Zoobesucher), der endgültig klarmacht, dass „Happy Feet" keine einfache Fabel-Moral präsentiert, sondern einen hochkomplexen und oft bitteren Beitrag über menschliches Verhalten abliefert. So ist „Happy Feet" für die ganz Kleinen kaum geeignet, für die etwas Größeren ein mitreißend inszeniertes, spannendes und saukomisches Musical-Abenteuer und für die Erwachsenen eine intelligente, tiefgründige und bissige Parabel. Was Familienunterhaltung angeht, wird Pixar zwar weiterhin Spitzenreiter bleiben, aber mit „Happy Feet" stößt Miller zumindest was den Tiefgang und die Inszenierung angeht in bisher unerreichte Regionen des computeranimierten Films vor. Nur mit der auf süß getrimmten Werbekampagne hat die oft doch extrem düstere Welt aus „Happy Feet" insgesamt eher wenig zu tun.