„Shame on you, Mister Bush!” Ein radikaler Filmemacher wie Michael Moore lässt sich seine Stimme nicht verbieten. Auch nicht von der honorigen Academy, die ihm gerade überraschend mutig, aber hochverdient den Oscar für seine Dokumentation „Bowling For Columbine“ verliehen hatte. Es ist dem Regisseur, Autor und Produzent eine Passion geworden, seinen Erzfeind George Walker Bush zu bekämpfen – mit allen Mitteln, sauberen und unsauberen. Der Zweck heiligt die Mittel. Das trifft auch auf sein brillantes Doku-Essay „Fahrenheit 9/11“ zu, in dem er den amtierenden US-Präsidenten genüsslich an den Pranger stellt, ihn vorführt und der Lächerlichkeit Preis gibt – mit dem Ziel, die Wiederwahl des verheerendsten US-Oberhauptes der Landesgeschichte zu verhindern. Dass seine Vorgehensweise hemmungslos subjektiv und polemisch ist, bestreitet Moore in keiner Sekunde. Die Kombination der formalen, filmischen Brillanz und dem selbst gesteckten Ziel macht aus „Fahrenheit 9/11“ einen außergewöhnlichen und vor allem für das amerikanische Volk wichtigen Film. Denn in einem Land, das die Pressefreiheit und Neutralität während des Irak-Krieges aufgegeben hat, ist einer wie Moore nötig, um zu zeigen, dass die Medaille auch eine Kehrseite hat.
Seine Schlüsselstelle hat „Fahrenheit 9/11“ in dem Moment, der alles veränderte. Präsident Bush Junior ist auf dem Weg in ein Klassenzimmer in Florida. Er bekommt die Nachricht, dass das erste Flugzug in die Twin Towers von New York City gekracht ist. Bush entschließt sich, den Raum zu betreten und den Kindern beim Vorlesen zuzuhören. Er sitzt in seinem Stuhl. Dann flüstert ihm einer seiner Mitarbeiter ins Ohr, dass das zweite Flugzeug ins World Trade Center gerast ist – „The nation is under attack“. Wie verhält sich der mächtigste Mann der Welt in einer solchen Ausnahmesituation? Wie reagiert er? ... Gar nicht! Verängstigt, fassungslos und völlig hilflos verschanzt er sich hinter dem Lesebuch. Er wirkt wie gelähmt. Endlos lange sieben Minuten (!!!) vergehen, bis Bush aus seiner Lethargie erwacht, das traurige Schauspiel beendet und in Kontakt mit seinem Stab tritt. Bezeichnender kann die Unfähigkeit der Marionette Bush nicht bebildert werden. Das ist die Szene, über die alle sprechen werden.
„Fahrenheit 9/11“ startet mit Beginn der Amtszeit Bushs, die Moore als das wahre Übel des Gegenwarts-Amerikas ausmacht. Er dokumentiert den Wahlbetrug, der den Republikaner Bush gegenüber dem Demokraten Al Gore an die Macht brachte. Verbindungen werden aufgezeigt, die dies möglich machten. Sehr geschickt führt Moore die Zuschauer in das Thema ein. Bis zur Titelsequenz, die die Hauptakteure der Bush-Adminstration vor TV-Interviews zeigt, hat er sich Bush zurechtgelegt, um ihn im Folgenden systematisch zu demontieren. Da ist Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz zu sehen, wie er sich widerlich seinen Kamm mit Rotze belädt, um seinen öligen Scheitel in Position zu bringen. Oder George W. Bush wie er Grimassen zieht, kurz bevor er seinem Volk den Beginn des bevorstehenden Irak-Krieges mitteilt.
Den Tag, der Amerika veränderte, den 11. September 2001, zeigt Moore aus anderer Perspektive. Bei den Flugzeugeinschlägen bleibt die Leinwand schwarz, nur mit dem Originalton unterlegt. Erst die geschockten Reaktionen der New Yorker sind wieder bebildert. Es ist angenehm, dass Moore nicht zu bereits tausendfach gesehenen Allgemein-Motiven greift, sondern neue Bilder findet, wie sie nicht oft zu sehen waren. Diesen tragischen Tag, an dem rund 3.000 Menschen nach dem barbarischen Terrorakt der El-Kaida um Osama bin Laden ihr Leben lassen mussten, dient als Ausgangspunkt, die Verbindungen der Bushs zur Bin-Laden-Familie aufzuzeigen. 24 Mitglieder der bin Ladens hielten sich zum Zeitpunkt des Anschlags in den USA auf. Zwei Tage später durften alle trotz nationalem Flugverbots mit einer Sondergenehmigung – ohne verhört zu werden – ausfliegen. Mitglieder der reichen Bin-Laden-Familie weisen Verbindungen zu den Öl-Firmen der Familie Bush auf. Moore ist clever genug, keine direkten Beschuldigungen auszusprechen, er präsentiert nur die Fakten und unterlegt diese mit satirischem Unterton. Dazu kommen Experten zu Wort, die die Zusammenhänge erklären und vertiefen. Überhaupt wird „Fahrenheit 9/11“ im gleichen Stil wie „Bowling For Columbine“ immer wieder satirisch gebrochen und überhöht. Trotz des ernsten Themas gibt es eine Menge zu lachen, auch wenn einem dieses gelegentlich im Halse stecken bleibt. In der lustigsten und skurrilsten Szene des Films „kapert“ Moore einen Eiswagen, um über Lautsprecher den Bürgern Washingtons den umstrittenen Patriot Act, jenen Gesetzesentwurf, der die Persönlichkeitsrechte der Amerikaner einschränkt, im Wortlaut zu verlesen.
Das Humoristische geht dem Film mit Eintreten der Irak-Kriegphase fast völlig abhanden. Doch das ist auch angemessen. Ist „Fahrenheit 9/11“ bis hierher eine persönliche Abrechung mit George W. Bush gewinnt der Film nun eine dokumentarische Qualität. Moore zeigt natürlich nicht die handverlesenen Bilder der US-Networks, die sich in Kriegszeiten hinter dem Präsidenten geschart haben. Er wühlte in Hunderten von Archiven und bindet Privataufnahmen ein, um das andere Bild des Krieges zu zeigen. Die US-Soldaten sind nicht nur ausführende Täter, sondern auch Opfer. Opfer der Bush-Politik, ein Land ohne nachhaltige Beweise anzugreifen, um finanziellen und innenpolitischen Interessen zu folgen. Einige Soldaten wundern sich, dass sie nicht als Befreier gefeiert, sondern von den Irakern gehasst werden. Andere sind geil auf den Krieg, auf Action. Doch viele sind einfach nur sauer, wissen nicht, was sie in dem Land zu suchen haben – verstehen nicht, für was sie ihren Kopf hinhalten.
Dies dokumentiert Moore anhand des Schicksals einer Familie. Er zeigt, wie die Bilderbuch-Patriotin Lisa Lipscomb zu einer beherzten Kritikerin wurde. Sie war stolz darauf, ihren Sohn in den Krieg zu schicken. Er wird getötet. In seinem letzten Brief schimpft er auf Bush, weiß nicht, was die Amerikaner dort zu suchen haben und wünscht sich die Abwahl des Präsidenten. Moore badet im Leid der Mutter, zeigt aber auch das Leid auf der anderen Seite der Gefechtslinie – das Leiden der irakischen Bevölkerung, die Tausende an zivilen Opfern zu beklagen hat... „Haben Sie Kinder?“ Mit dieser Frage geht Moore dann auf der nächsten Etappe in seinen berüchtigten Nahkampf. Von allen US-Abgeordneten in Washington ist nur einer dabei, dessen Sohn im Irak kämpft. Mit schonungsloser Polemik will der Filmemacher versuchen, die Politiker dazu zu bewegen, ihre Kinder in den Krieg zu schicken. Die meisten winken gleich ab, andere sind irritiert und ergreifen die Flucht. Sie werden vorgeführt. Aber der Fakt bleibt: Nur ein Abgeordneten-Sohn kämpft im Irak.
Warum ist Moores Film so wichtig für die USA? Das intellektuelle Amerika ist entsetzt über Bush, diesen arroganten, einfachen Tor, der es nicht besser weiß und wahrscheinlich selbst an das glaubt, was er vertritt. Aber die Masse der Denker schweigt, die demokratische Opposition schweigt. Nur Michael Moore schweigt nicht. Seine Methoden seien teils platt, polemisch und populistisch, entgegnen seine Kritiker. Und ja, das sind sie, und wie. Moore richtet sich an das einfache Volk, will diesen Menschen erklären, was in ihrem Land vor sich geht, will sie aus der Bevormundung durch die parteiischen US-Medien befreien, ihnen eine zweite Meinung anbieten. Er will wachrütteln. Und das gelingt ihm mit seinen filmischen Mitteln. Er lässt ein Stakkato an Informationen auf sein Publikum niederprasseln. Möglicherweise hätte er die wahre Achse des Bösen (Vize-Präsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, Vize-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz) hinter der Marionette Bush härter angehen und sie als Drahtzieher des Übels und der Lügen entlarven müssen. Diesen Gedankengang überlässt er dann doch dem Publikum.
Michael Moore sieht „Fahrenheit 9/11“ als Möglichkeit, seine Mission durchzusetzen. Das löst er filmisch herausragend und inhaltlich geschickt, wenn auch diskutierbar. Die Kernfrage: Heiligt der Zweck wirklich die Mittel? Das muss jeder für sich selbst beantworten. Moore ist kein Intellektueller, er ist bekennender Patriot. Das hält ihn nicht davon ab, den Finger in die Wunde zu legen. Kritiker werfen ihm vor, zur eigenen Karikatur zu werden und sich an seiner Staatskritik dumm und dämlich zu verdienen. Doch Moore hat seine Arbeitsweise nicht geändert. „Fahrenheit 9/11“ bedient sich der gleichen Methodik, die bei „Bowling For Columbine“ Begeisterungsstürme hervorrief. Nur dass das Interesse nun sprunghaft gestiegen ist. Der Film passierte in den USA bei einem Budget von sechs Millionen bereits die 100-Millionen-Dollar-Einspielgrenze und ist damit der mit Abstand erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten und profitabel wie kaum ein Werk zuvor.
Also: Acht Punkte für den Film, einen Punkt für das Anliegen Moores. Ähnlich handhabte dies auch die Jury bei den Filmfestspielen in Cannes. Dort erhielt „Fahrenheit 9/11“ die begehrte Goldene Palme für den besten Film. Wenn das amerikanische Volk eine zweite Amtszeit von George Walker Bush nicht verhindert, ist diesem einst großen Land nicht mehr zu helfen. Hoffen, wir dass sich die Vernunft durchsetzt...