Ja, wo anfangen bei einem Dokumentarfilm? Man sollte eigentlich meinen, eine Besprechung ist eine Besprechung, egal, was für eine Art von Film man da vor sich hat, aber dem ist nicht so. Einen Dokumentarfilm muss man anders bewerten und anders sehen als einen Spielfilm. Vielleicht der Reihe nach – zunächst einmal das, worum es in „Standing In The Shadows Of Motown“ eigentlich geht. Der Regisseur Paul Justman, bekannt für Dokumentarfilme über Popmusik, hat sich schon Jahre mit der Absicht getragen, die unbekannten Musiker hinter Namen wie Marvin Gaye, Stevie Wonder, Gladys Knight and The Pips, The Marvelettes und anderen bekannten Größen der Soulmusik in einem Film vorzustellen: Die Funk Brothers. Und wer kennt die auch schon? Machte man eine Straßenumfrage, bekäme man sicher zur Antwort, den Namen habe man schon einmal gehört, aber – gab’s da Hits...? Ein guter Grund, neben der fantastischen Musik natürlich, sich den Film anzusehen und mehr über die Musiker zu erfahren, die immer im Schatten des Labels Motown standen. In der Tat hatten alle diese Soulgrößen, wie die Temptations oder die Supremes, naturgemäß eine Band im Hintergrund. Dass es immer dieselbe war, die dazu noch die meisten der Hits gemeinschaftlich komponiert hat, dürfte vielen in der Form nicht klar gewesen sein. Genau über diese Band berichtet der Film. Wie kamen die Musiker zusammen? Wie kamen sie alle ausgerechnet nach Detroit? Und wieso überhaupt machten sie Musik?
Zu all diesen Fragen lässt der Film die Musiker selbst zu Wort kommen. Sie kamen nach Detroit, das Ende der 50er Jahre eine Metropole des Jazz gewesen ist, so erzählen sie, um Geld in der dort ansässigen und boomenden Autoindustrie zu machen. Der Süden, von wo ein Großteil der Funk Brothers stammte, war wirtschaftlich nicht so entwickelt, dass er irgendjemandem eine Zukunft geboten hätte. Aber das Arbeiten am Fließband ist natürlich bei weitem nicht so interessant wie das Musikmachen und schon bald hatten sich ungefähr 10, 15 Musiker in einem kleinen Studio, dem Studio A oder dem Snake Pit, wie sie es nannten, in einer Detroiter Vorstadt zusammengefunden: James Jamerson, ein Bassist, Uriel Jones und Benny „Papa Zita“ Benjamin als Drummer, Joe Messina als Gitarrist und Jack Ashford als Tamburin- und Vibe-Spieler. Die berühmten Sänger sind im Film nebensächlich, sie hörten die leidenschaftlichen Musiker meist erst bei ihren Auftritten in den zahllosen Jazzclubs, die sich den 12- bis 14-stündigen Jam-Sessions im Snake Pit anschlossen. Dass dann schon bald ein Musiklabel daraus entstand, behandelt der Film als die Nebensache, die es in diesem Zusammenhang ist – es geht um die Funk Brothers, nicht um das Label Motown.
Und dann wurde am nächsten Tag wieder gearbeitet, und stolz erzählen die Musiker, dass es ihnen manchmal gelang, in nur zwei, drei Stunden vier bis fünf Nummer-Eins-Hits zu fabrizieren. Am Beispiel „Heard It Through The Grapevine“ demonstrieren sie das: erst war da ein Rhythmus, den der Drummer vorgab, dann kam der Bass, dann die Gitarren und so weiter, bis alle nichts anderes mehr im Kopf hatten als die neue Melodie. Aber auch die negativen Seiten des Business werden nicht verschwiegen, nicht der Alkoholismus von James Jamerson oder die Drogensucht von Papa Zita, die ihm dann irgendwann zum Verhängnis wurde. So wird am Ende des Films, nach dem Umzug des Labels nach L.A., die neue Musikmetropole, auch deutlich, dass eigentlich jeder der Musiker süchtig war, und sei es nur vom Musikmachen mit den anderen Funk Brothers. Folgerichtig kam und kommt es den Funk Brothers offensichtlich nicht darauf an, wer ihre Lieder bekannt gemacht hat. Die Berühmtheiten des Labels Motown werden nur in Nebensätzen erwähnt. Wichtig war und ist den Musikern offenbar nach wie vor nur die Musik – das sagen sie zumindest, aber bei dem Song „Ain’t No Mountain High Enough“ macht die Kamera klar: Ihre Musik verschaffte ihnen ein Gemeinschaftsgefühl. Die Liebe zur Musik eint die Männer auch heute noch und das war es offenbar, was es dieser Musikergemeinschaft ermöglichte, mehr Nummer-Eins-Hits zu produzieren als die Rolling Stones, die Beatles und Elvis zusammen.
Und in der Tat ist das auch das Ergreifendste, was in diesem Film zu sehen ist, dieses tiefe musikalische Miteinander derjenigen, die von den Funk Brothers heute noch die Bühnen bevölkern können. Dass sie den Ruhm, der Stevie Wonder, Marvin Gaye und den anderen so selbstverständlich zuteil wurde, nicht erreichten, gerät bei diesem wunderbaren Zusammenspiel beinahe zur Nebensache, auch wenn es laut Regisseur Paul Justman eigentlich das Hauptthema der Dokumentation hätte werden sollen.
Versionen der Evergreens werden immer wieder zwischen die erzählerischen Passagen geschnitten – dass sie von Künstlern interpretiert werden, die teilweise in der Sparte Soul nicht zu Hause sind, könnte Puristen als Manko aufstoßen. Offenbar wurden diese Musiker und Sänger jedoch mit Absicht gewählt, um die Allgemeingültigkeit der Musik der Funk Brothers zu demonstrieren. Hier scheitert der Film vielleicht ein wenig. Aber ein solches Scheitern ist ein sehr angenehmes und vielleicht sogar eins der schönsten und vor allem sympathischsten, die man je auf der Leinwand erleben durfte. Und vielleicht verschafft gerade das den Funk Brothers die Berühmtheit, die sie wirklich unsterblich macht.