Mit „Die fabelhafte Welt der Amelie“ gelang Jean-Pierre Jeunet 2001 der ganz große Wurf. Sowohl Kritiker als auch die breite Masse verliebten sich in seine naive und vielleicht gerade deshalb so wundervolle Geschichte über die liebenswerte Eigenbrötlerin Amélie Poulain. Damit hat Jeunet die Messlatte für sein Nachfolgewerk selbst äußerst hoch gelegt. Alles andere als ein weiterer starker Film wäre eine Enttäuschung gewesen. Eine schwere Bürde. Doch es kann Entwarnung gegeben werden. Mit „Mathilde – Eine große Liebe“, der Verfilmung von Sébastien Japrisots Erfolgsroman „Die französische Verlobte“, gelang Jeunet eine der wundervollsten Liebesgeschichten der vergangenen Jahre.
Frankreich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: Mathilde (Audrey Tautou) ist noch ein kleines Mädchen, als ihre Eltern sterben. Diese hinterlassen ihr jedoch ein kleines Vermögen. Somit ist zumindest die finanzielle Zukunft gesichert. Ein neues Zuhause findet sie bei ihrem Onkel Sylvain (Dominique Pinon) und dessen Frau Bénédicte (Chantal Neuwirth), die sich aufopfernd um sie kümmern. Doch als sie sich eingelebt hat, ereilt sie prompt der nächste Schicksalsschlag: Kinderlähmung. Fortan ist sie schwer gezeichnet, benötigt regelmäßige Massagen, zieht einen Fuß nach und kapselt sich noch mehr von ihrer Außenwelt ab. Einzig dem ebenfalls ziemlich verschlossenen Sohn des Leuchtturmwärters, Manech (Gaspard Ulliel), gelingt es zu ihr durchzudringen. Die beiden einsamen Seelen verlieben sich ineinander und werden zu einem untrennbaren Paar.
Dann geschieht jedoch etwas, das ihre Liebe auf eine harte Probe stellt. Der Erste Weltkrieg bricht aus und Manech wird an die Front beordert. Für Mathilde bricht eine Welt zusammen. Doch was Manech an der Front erlebt, geht über das, was sein zartes Gemüt in der Lage ist zu ertragen, hinaus. Der Krieg verändert ihn, macht ihn zu einem gebrochenen Mann. Einzig seine Liebe zu Mathilde hält ihn am Leben. Um seiner Angebeteten endlich wieder nahe sein zu können, beschließt er, sich selbst zu verstümmeln. Ein Schuss in die eigene Hand, so der Plan, soll ihn von seinem Elend erlösen. Was will die Armee schon mit einem verletzten Soldaten, der nicht in der Lage ist, ein Gewehr abzufeuern? Sie würden ihn doch sicherlich wieder nach Hause schicken. Doch dabei hat Manech die Rechnung ohne seine Vorgesetzten gemacht. Gemeinsam mit vier weiteren Deserteuren wird Manech vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt. An ihnen soll ein Exempel statuiert werden. Sie werden an die Frontlinie zum Schützengraben Bingo Crepuscule gebracht und ins Niemandsland genau zwischen den französischen und deutschen Stellungen gejagt…
Die Jahre vergehen, doch Mathilde will der Mitteilung keinen Glauben schenken, dass Manech an der Front gefallen ist. Auch wenn alles darauf hindeutet und auch Sylvain und Bénédicte ihr raten, die Vergangenheit ruhen zu lassen, gibt sie die Hoffnung nicht auf. Wenn er tot wäre, würde sie es doch wissen. Aber irgendetwas sagt ihr, dass Manech noch lebt. Mathilde schnappt sich das Vermögen ihrer Eltern, engagiert den Privatdetektiv Germain Pire (Ticky Holgado) und beginnt im Paris der 20er Jahre Nachforschungen anzustellen. Sie ist sich sicher, dass ihr irgendetwas verheimlicht wird. Was ist wirklich geschehen, 1918 am Bingo Crepuscule?
Dem ehemaligen Kurzfilmregisseur Jean-Pierre Jeunet gelang mit seinen berauschenden Spielfilmdebüts „Delikatessen“ und „Stadt der verlorenen Kinder“ überraschend, aber auch vollkommen zu Recht, über die Landesgrenzen Frankreichs hinaus der Durchbruch. Hollywood klopfte an und es folgte der eher mäßige vierte Teil der „Alien“-Saga. „Alien: Die Wiedergeburt“ krankte genau an dem, was Jeunet bisher so stark machte. Das Drehbuch war eher unausgegorenen und die Geschichte allenfalls durchwachsen. Jeunet zog sich nach Frankreich zurück und es folgte eine vierjährige kreative Schaffungspause. Erst 2001 meldete er sich mehr als eindrucksvoll mit „Die fabelhafte Welt der Amelie“, dem Überraschungserfolg des Jahres, zurück. Mit dem im internationalen Vergleich eher lächerlich anmutenden Budget von gerade einmal 10 Millionen Dollar gelang dem Film das gigantische Einspielergebnis von weltweit über 170 Millionen Dollar. Wieder einmal standen Jeunet die großen Geldtöpfe offen.
Bereits bei der Oscar-Verleihung 2002 – bei denen „Amelie“ sträflich übergangen wurde - reifte der Entschluss, noch einen gemeinsamen Film zu drehen. Das gesamte „Amelie“-Team sollte noch einmal bei einem gemeinsamen Projekt vereint werden. Doch zuerst musste eine adäquate Geschichte gefunden werden. Die Wahl fiel auf eine Leinwandadaption von Sébastien Japrisots äußerst populärem Roman „Un long dimanche de fiançailles“. Problematisch an diesem Vorhaben war, dass die Filmrechte schon seit über zehn Jahren bei Warner lagen. Doch aus der Not wurde eine Tugend gemacht. Jeunet konnte das Studio von seinem Vorhaben überzeugen, diesen französischen Roman in Frankreich mit französischen Darstellern zu realisieren und gemeinsam wurde das 56 Millionen Dollar schwere Budget gestemmt. Als diese Hindernisse aus dem Weg geräumt waren, machte sich Jeunet gemeinsam mit „Amelie“-Co-Autor Guillaume Laurant an das Drehbuch.
Oberflächlich betrachtet erzählt „Mathilde“ keine allzu originelle Geschichte: zwei Liebende, die durch den Krieg getrennt wurden. So etwas gab’s schon oft. Zuletzt in Anthony Minghellas „Unterwegs nach Cold Mountain“. Doch „Mathilde“ hat wesentlich mehr zu bieten. Weder Roman noch Film lassen sich in irgendeine Schublade quetschen. Stilsicher verarbeitet Jeunet Einflüsse verschiedener Genres. „Mathilde“ ist gleichermaßen Kriegsdrama wie Liebesgeschichte, Krimi wie Film Noir. Wo Minghella seinem Publikum ein mitunter recht langatmiges Einerlei bot, gibt es bei Jeunet Abwechslung satt. Erzählt wird die Geschichte in drei verschiedenen, aber in sich harmonischen Handlungssträngen. Im Vordergrund steht dabei Mathildes Suche nach ihrem Geliebten. In Rückblenden erfährt der Zuschauer mehr über Manechs Schicksal am Bingo Crepuscule sowie deren gemeinsamer Vergangenheit. Dabei wird der Betrachter allerdings nie überfordert. Die Stimme eines Erzählers nimmt ihn an der Hand und führt ihn elegant durch die einzelnen Episoden.
Der besondere Clou von „Mathilde“ ist jedoch Mathilde selbst. Eine von Kinderlähmung gezeichnete, attraktive junge Frau, die den Tod ihres Liebsten nicht akzeptieren will und sich auf der Suche nach ihm durchs Frankreich der 20 Jahre schleppt. Angetrieben von der festen, unbeirrbaren Überzeugung, dass dies einfach nicht sein kann, nicht sein darf. Hand auf Herz: Wer hier kalt bleibt, dem ist nicht mehr zu helfen. Wenn es je einen Filmcharakter gab, dem man als Zuschauer das Happy End vom tiefsten Inneren gegönnt hätte, dann ist es definitiv Mathilde. Wenn es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, dann wird sie doch sicherlich ihren Manech am Ende in Arme schließen dürfen… oder etwa doch nicht?!
Dies ist vor allem der Verdienst der überragenden Hauptdarstellerin Audrey Tautou. Dank „Amelie“ wurde sie über Nacht zum Star. Mit weit aufgerissenen Augen und einem verschmitzten Lächeln begeisterte sie Millionen. Doch was sie in „Mathilde“ nun abliefert, ist nochmals eine Stufe höher anzusiedeln. Binnen weniger Sekunden hat sie einen komplett um den kleinen Finger gewickelt. Einerseits möchte der Zuschauer Mitleid mit ihr haben, da ihrer Mathilde doch so viel Schlechtes widerfahren ist. Andererseits versprüht sie eine solche Freude am Leben und eine solche unumstößliche Selbstsicherheit in ihrem Handeln, als wolle sie sagen: „Ich brauche Eurer Mitleid nicht. Ich nicht! Warum auch? Mein Manech wird schließlich wieder zu mir kommen!“ Sie ist gleichermaßen verletzlich wie stark, verbreitet Hoffnung wie Zweifel. Tautou reißt „Mathilde“ mühelos an sich, trägt den Film auf ihren schmalen Schultern und rechtfertigt alleine schon den Kinogang.
Die Rolle des Manech wurde mit dem gerade einmal 21-jährigen Gaspard Ulliel besetzt. Das Glück des jungen Mimen ist es wohl, dass er naturgemäß nur wenige gemeinsame Szenen mit Audrey Tautou hat. Aus diesem Aufeinandertreffen hätte er nur als Verlierer hervorgehen können. Doch so kann Ulliel in aller Ruhe beweisen, dass er über das nötige Talent verfügt, um gar kein Schlechter zu werden. Ihm gelingt es, die Wandlung vom lebensbejahenden zum gebrochenen Mann glaubhaft zum Publikum zu transportieren. „Dass wir verurteilt wurden, ist ein Glück für mich – so brauchen wir nicht bis zum Ende des Krieges zu warten. Nach der Vollstreckung darf ich endlich nach Hause…“ Neben Mathilde und Manech kann der Film noch mit einer ganzen Reihe weiterer starker Darsteller in faszinierenden Rollen aufwarten. Doch in Details zu gehen, würde einem Hochverrat gleichen. Jede Andeutung, wer wann wie seinen Auftritt bekommt, würde den Spaß am Film nur schmälern. Beschränken wir uns daher auf die Feststellung, dass sich kein einziger Ausreißer nach unten eingeschlichen hat, Jeunet und sein Team beim Casting ganze Arbeit geleistet haben und insbesondere der überraschende Gastauftritt von Jodie Foster (ja, sie ist es wirklich) ein klares Zeichen für die wachsenden Bedeutung des französischen Films setzt.
Handwerklich und optisch ist „Mathilde“ wie schon „Amelie“ ein wahres Fest der Sinne. Doch seien wir ehrlich: War von einem Jeunet mit einem üppig bemessenen Budget in der Hinterhand etwas anderes zu erwarten? Die Kulissen des Paris der 20er Jahre sind ein Traum, die Schützengräben authentisch und Mathildes Heimat direkt am Meer ein Idyll zum Niederlassen. Gemeinsam mit Kameramann Bruno Delbonnel fing Jeunet erneut faszinierende, denkwürdige Bilder ein, die sich förmlich ins Gehirn des Zuschauers brennen. Hinzu kommt noch die starke musikalische Untermalung von Angelo Badalamenti („Twin Peaks“). „Mathilde“ muss sich in Sachen Produktionswerten nicht verstecken. Hollywood hätte dies nicht besser machen können.
Abzüge gibt es allenfalls in der B-Note. Hier und da wirkt die Geschichte beispielsweise einen Tick zu fantastisch. Vor allem, wenn eigentlich tot geglaubte Personen auf einmal auftauchen und Mathilde ein weiters Puzzelsteinchen liefern. Gelegentlich wird der Bogen der Glaubwürdigkeit vielleicht einen Tick überspannt. Doch sei’s drum. Verziehen und vergessen! Auch wenn es schon tausende Filme über Krieg und Liebe gab, so lange sie so erfrischend, so liebevoll, so ergreifend erzählt werden wie Jeunets neuester Streich „Mathilde“, dürfen gerne noch weitere folgen. Unbedingt anschauen!