Mein Konto
    Gone Baby Gone - Kein Kinderspiel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Gone Baby Gone - Kein Kinderspiel
    Von Andreas Staben

    Im September entschied der Verleih von Ben Afflecks Thriller-Drama „Gone Baby Gone“, den Film vorerst nicht in den britischen Kinos anlaufen zu lassen. Als Grund wurden zu große Parallelen zwischen der fiktiven Handlung und dem Entführungsfall „Madeleine“ genannt, der seit dem Verschwinden des kleinen Mädchens im Frühsommer in Portugal fast ununterbrochen im Brennpunkt der weltweiten Öffentlichkeit steht. Glücklicherweise haben die Verantwortlichen in Deutschland keine Veranlassung zu ähnlichen, ohnehin diskutablen Maßnahmen gesehen, so dass wir uns von den Qualitäten von Afflecks Regie-Erstling wie geplant überzeugen können. Ironischerweise befindet sich die Verfilmung des Romans von Dennis Lehane (deutscher Titel: „Kein Kinderspiel“) im Gegensatz zu vielen reißerischen und sensationslüsternen Berichten über Madeleine und ihre Familie auf der Höhe einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit seinen schwierigen Themen. Im Gewand eines spannenden Genrefilms liefert uns der als Schauspieler nach seinen Rollen etwa in Pearl Harbor und Armageddon durchaus umstrittene Star eine reife Reflexion über komplexe moralische Fragen. Die besondere Leistung dabei ist, dass der Zuschauer zur eigenen Stellungnahme herausgefordert wird, die den meisten nicht leicht fallen dürfte.

    Im Arbeiterviertel Dorchester in South Boston verschwindet die vierjährige Amanda McCready (Madeline O'Brien) spurlos. Nachdem die Polizei zunächst keine brauchbaren Hinweise findet, wenden sich Amandas Tante Beatrice (Amy Madigan) und Onkel Lionel (Titus Welliver, „Deadwood“) an das Privatermittlerduo Patrick Kenzie (Casey Affleck) und Angie Gennaro (Michelle Monaghan). Dem in der Nachbarschaft aufgewachsenen Paar trauen die besorgten Verwandten eher zu, die misstrauischen Leute des Viertels zum Reden zu bringen. Polizeichef Jack Doyle (Morgan Freeman) ist zwar skeptisch was einen Fahndungserfolg angeht, aber er nimmt die Unterstützung der Amateure an, die fortan mit seinen Detectives Bressant und Poole (Ed Harris und John Ashton, Beverly Hills Cop) zusammenarbeiten sollen. Die mit der Situation klar überforderte, drogenabhängige Mutter des entführten Kindes, Helene (Amy Ryan), gibt Patrick, der sie aus Schulzeiten kennt, erste wichtige Hinweise. Die Ermittlungen konzentrieren sich zunächst auf örtliche Drogendealer, ehe das Verschwinden eines weiteren Kindes die Befürchtung eines pädophilen Serientäters aufkommen lässt. Im weiteren Verlauf der Recherchen werden die beiden Ermittler, die sonst eher mit Karteileichen zu tun haben, mit Folter, Mord, Betrug und Täuschung konfrontiert. Sie müssen schwerwiegende Entscheidungen fällen, deren Konsequenzen ihr Leben und ihre Beziehung nachhaltig prägen werden.

    Als Drehbuchautor hat Ben Affleck gemeinsam mit Matt Damon für „Good Will Hunting“ bereits einen Oscar gewonnen. Bei seinem Regiedebüt hat er sich nun wieder an die Empfehlung gehalten, möglichst vieles einzubeziehen, was er gut kennt. Er hat die Rechte an seinem erklärten Lieblingsbuch erworben, mit seinem alten High-School-Kumpel Aron Stockard das Drehbuch geschrieben und die Hauptrolle an seinen Bruder Casey (Ocean's Eleven, Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford) vergeben. Und er hat die Originalschauplätze seiner Heimatstadt unvergleichlich lebendig eingefangen. Das Bild der Stadt in „Gone Baby Gone“ steht im Gegensatz zu den anderen beiden großen Boston-Filmen der jüngsten Zeit – Clint Eastwoods Mystic River, der im übrigen auch auf einer Vorlage von Dennis Lehane basiert, und Martin Scorseses Departed - Unter Feinden – denn Affleck und sein Kameramann John Toll (Braveheart, „Legenden der Leidenschaft“) verzichten auf eine Stilisierung der Stadt zum düsteren Sündenpfuhl. Selbst im Schäbigem und Heruntergekommenem scheint unter dem fast zärtlichen Blick Afflecks oft die unaufdringliche Schönheit des Vertrauten hervor. Einen ganz eigenen Pulsschlag erhält das feingezeichnete Porträt durch die vielen lokalen Statisten und Kleindarsteller mit ihrem unverfälschten Auftreten und dem typischen Rhythmus ihrer Sprache.

    Die glaubwürdige Darstellung der schwierigen Lebensumstände im durch Drogen und Kriminalität deutlich geprägten Arbeiterviertel bildet die Grundlage dafür, dass „Gone Baby Gone“ den Rahmen eines selbstgenügsamen Genrefilms sprengt. Die Handlungsdramaturgie ist nicht perfekt abgerundet, dafür werden etwa in der an den klassischen Film Noir erinnernde Off-Erzählung ganz überlegt Akzente gesetzt. Wenn vom Versuch die Rede ist, sich die Unvoreingenommenheit des kindlichen Blicks zu erhalten, kann dies getrost als Credo für den ganzen Film verstanden werden. Genau in diesem Sinne gelingt es besonders Amy Ryan (Capote) als Amandas Mutter trotz Drogensucht und vieler charakterlicher Schwächen stets auch Sympathien zu wecken. Etwas weniger überzeugend sind dagegen die Stars Morgan Freeman (Der Anschlag, Sieben, Million Dollar Baby) und Ed Harris (Pollock, Die Truman Show, Apollo 13) in ihren Nebenrollen. Freemans Polizeichef Doyle, der nach dem eigenen Verlust einer Tochter etwas eigenwillige Methoden anwendet um anderen Kindern zu helfen, ist eine ambivalente Figur ohne wirkliche Tiefe und ist in der Anlage des Films ähnlich wie Michelle Monaghan (Kiss, Kiss, Bang, Bang, Nach 7 Tagen – Ausgeflittert) als Angie hauptsächlich als Gegenpart zur Hauptfigur wichtig.

    Patrick Kenzie ist Herz und Zentrum des Films und mit Casey Affleck ist die Rolle ideal besetzt. Er fügt sich mit gelegentlich leichter Macho-Attitüde und bestimmtem Auftreten zum einen nahtlos in das Milieu ein, zum anderen schimmert immer wieder seine Sensibilität und Verletzlichkeit durch. Mit dieser sorgfältig ausbalancierten Kombination bleibt er jederzeit der Ankerpunkt der Erzählung. Wenn Patrick nach einer tödlichen Kurzschlusshandlung eine weitere falsche Entscheidung selbst um den Preis seiner Beziehung zu Angie vermeiden will, ist Casey Affleck die Last des Dilemmas genauso anzusehen wie die Klarheit seiner Entschlossenheit.

    „Gone Baby Gone“ ist ein wendungsreicher, sehr spannender Thriller mit moralischem Kompass. Seine Akteure erliegen immer wieder der Versuchung, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Auch den Zuschauern wird die Abwägung der Alternativen schwer gemacht. Und dennoch bleiben richtig und falsch in den entscheidenden Augenblicken klar unterscheidbar. Mit seinen impliziten Fragen nach der besten Fürsorge für Kinder und den angemessenen Mitteln zu ihrem Schutz wirkt Ben Afflecks Regieerstling lange nach: Ein Plädoyer für das genaue und vorurteilsfreie Hinsehen.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top