Spekulationen und Gerüchte gab es um Finnlands eigenwilligen Kino-Export Aki Kaurismäki. Der Kult-Regisseur wolle sich aus dem Filmgeschäft zurückziehen, sich als Winzer niederlassen oder einfach nur aufhören. Die Realität sieht anders aus. Zum Glück. Denn mit der Tragikomödie „Der Mann ohne Vergangenheit“ präsentiert sich der kauzige Finne in Bestform. Das kleine Meisterwerk hat alles, was einen Kaurismäki-Film sehenswert macht: Melancholie, Dramatik und reichlich lakonischen Humor.
Die Einführung in die Geschichte ist kurz, knapp, aber prägnant. Eigentlich wollte der namenlose Reisende (Markku Peltola) auf einer Parkbank nur eine Zigarette qualmen und sich von der anstrengenden Zugfahrt erholen. Plötzlich bekommt er von hinten einen Schlag mit der Baseballkeule ins Kreuz gedroschen. Drei Vandalen rauben ihn aus, prügeln weiter auf den Wehrlosen ein, bis er halbtot ist. Im Krankenhaus schreiben sie den Namenlosen bereits ab, das Leichentuch bedeckt schon seinen Kopf. Doch der Mann ohne Vergangenheit ist zäh, mehr sogar als zäh. Er rappelt sich wieder auf, richtet sich die zerschlagene Nase im Selbstversuch und verlässt das Hospital. Erst am Rande einer Containersiedlung an der Peripherie Helsinkis bricht er erschöpft zusammen. Der barmherzige Habenichts Niemienen (Juhani Niemelä) und seine Frau Kaisa (Kaija Pakarinen) nehmen ihn auf und päppeln den Hilflosen wieder auf. Durch die Schläge auf den Kopf hat er sein Gedächtnis verloren, kann sich nicht mehr erinnern, wer er ist, was er gemacht hat oder woher er stammt. Bei der Heilsarmee findet er Unterstützung und eine Arbeit, sodass er sich in einem heruntergekommenen Container einrichten kann. Außerdem hat er sich in die spröde, genau wie er, nicht mehr ganz junge Heilsarmistin Irma (Kati Outinen) verliebt.
Rein formal spielen die meisten Werke des Regie-Exzentrikers Aki Kaurismäki („Leningrad Cowboys Go America“, „Ariel“) in Finnland. Allerdings ist sein Mikrokosmos der Verlierer und Gebeutelten nicht unbedingt realitätskompatibel. Nicht umsonst hasst das finnische Tourist Board den berühmtesten Kinoschaffenden des Landes mit Inbrunst. Seine Filme werfe ihre Arbeit um Jahrzehnte zurück, so die Begründung. Da ist sicherlich etwas dran. Aber im Grunde spielen Aki-Filme nicht in Finnland, sondern in Kaurismäki-Land, das - ob nun absichtlich oder zufällig - von Finnen bevölkert wird. Die Autos scheinen aus den 50ern zu stammen, die Musik ist wahlweise aus den Anfangszeit des Rock ’N’ Roll oder finnischen Volksliedern aus Ur-Omas Zeiten rekrutiert und die Nokia-Generation junger, moderner, erfolgshungriger Finnen findet nicht statt. Dennoch trifft der bei seinen Landsleuten nicht gerade beliebte 45-Jährige, den Ton genau. Seine Charakterzeichnung ist so treffend wie entlarvend auf den Punkt, dass sich niemand dem entziehen oder Kaurismäki gar als wirren Spinner abtun kann. Er trifft den Nerv der Nation. Auch wenn’s wehtut. Sein Film ist vielmehr als Parabel zu verstehen. Kaurismäki: „Meine Ansichten zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation unserer Gesellschaft, wie auch zu Moral und Liebe, spiegelt der Film hoffentlich trotzdem wider.“
„Der Mann ohne Vergangenheit“, der in Cannes den Großen Preis der Jury erhielt und beim Hamburger Filmfest mit dem Douglas-Sirk-Preis bedacht wurde, ist ein durch und durch typischer „Kaurismäki“. Nicht zum ersten Mal strandet ein Mann ohne Vergangenheit und scheinbar ohne Zukunft in einer fremden Stadt und muss sich mit dem Drama Leben auseinandersetzen. Aber ist der von Markku Peltola („Juha“, „Wolken ziehen vorrüber“) mit minimalistischem Einsatz, aber hocheffektiv gespielte Protagonist wirklich ein Verlierer? Trotz aller Trostlosigkeit, Tristesse und Depression gibt der Regisseur seinen Figuren einen Strohhalm voll Hoffnung und die kleinen Freuden, die sie nicht vollends am Leben verzweifeln lassen. Wenn der namenlose Antiheld beispielsweise seinen schäbigen Container auf Hochglanz poliert, ein grauenhaftes Mahl brutzelt, um seiner Liebe Irma, dargestellt von Kaurismäki-Star Kati Outinen („Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“, „Tatjana“, „Wolken ziehen vorüber“), zu imponieren, ist das ebenso anrührend wie seine innerliche Genugtuung über die ersten selbstgeernteten Kartoffeln. Trotz aller Rückschläge, die seine Namenlosigkeit mit sich bringt, lässt er sich nicht unterkriegen.
Kaurismäki ist unbestreitbar Minimalist. Die lakonischen, zumeist nur aus kurzen Hauptsätzen bestehenden, gebrummten und gemurmelten Dialoge geben nur das Notwendigste preis. Mehr ist auch nicht nötig. Der Rest lässt sich problemlos aus den Gesichtern der Darsteller und aus der Umgebung, in der sie sich bewegen, ablesen. Zwar ist der Grundton von „Der Mann ohne Vergangenheit“ schwermütig melancholisch und dramatisch, doch immer wieder blitzt dieser lakonische, staubtrockene Humor auf, der die Figuren zutiefst sympathisch und interessant macht.
Das alles verpackt Kaurismäki in den sattesten Technicolorbildern, die in letzter Zeit über die Leinwand geflimmert sind. Er lässt stilvoll Gegensätze aufeinanderprallen. Glutrote Sonnenuntergänge schillern über das Wasser der Containersiedlung auf den Schrottplatz nieder. Das wirkt so surreal wie faszinierend. Sicherlich wird nicht jeder Zugang zur Welt des Aki Kaurismäki finden. Aber das ist auch nicht beabsichtigt. Und es wäre dem wortkargen und trinkfesten Finnen mit Sicherheit auch nicht recht. Wer sich aber auf den Mann ohne Vergangenheit einlässt, wird mit einem wundervollen Film belohnt.