Ein gewöhnlicher Mainstreamfilm hat üblicherweise rund 300 Schnitte. Viel zu viele dachte sich der russische Regisseur Alexander Sokurov und schickte sich an, mit seinem Experiment „Russian Ark“ Filmgeschichte zu schreiben. Sein Streifzug durch die St. Petersburger Eremitage ist die längste Kamerafahrt der Historie: 96 Minuten lang und ohne einen einzigen Schnitt. „Russian Ark“ ist meisterlich berauschend, originell - nicht perfekt, aber auf jeden Fall gelungen. Kleine Mängel an der Tücke der Aufgabe verhindern eine noch größere Wirkung.
Auf wundersame Weise findet sich ein zeitgenössischer russischer Filmemacher in der St. Petersburger Eremitage des frühen 18. Jahrhunderts wieder. Er trifft auf einen zynischen französischen Diplomaten aus dem 19. Jahrhundert, mit dem er sich auf eine aufregende Reise durch den Palast und die turbulente Geschichte Russlands begibt. Während der Marquis (Sergey Dreiden) und der Filmemacher die prachtvollen Korridore und Salons der Eremitage erkunden, sind sie Zeuge erstaunlicher Szenen aus 300 Jahren zaristischem Russland: Peter der Große peitscht einen seiner Generäle aus; Katharina die Große (Maria Kuznetsova) hetzt während der Proben zu ihrem eigenen Theaterstück umher; die Familie des letzten Zaren sitzt unbeirrt von der heranrollenden Revolution gemeinsam am Tisch und diniert; Hunderte von Gästen tanzen Walzer beim letzten großen königlichen Ball von 1913…
Der ununterbrochene Zug durch die Räume der Eremitage entfaltet sich zu einer einzigartigen Zeitreise, während sich gleichzeitig ein leidenschaftlicher Disput zwischen den beiden Männern aus unterschiedlichen Epochen entwickelt. Den französischen Marquis verbindet eine westliche Hass-Liebe mit Russland. Der moderne russische Filmemacher hinterfragt die wechselvolle Vergangenheit seines Landes und dessen Beziehungen zum heutigen Europa. Die beiden sticheln sich gegenseitig und teilen gleichzeitig ihr Erstaunen über die wundersamen Begegnungen während ihrer Reise durch die Geschichte. Die Eremitage ist wie eine Arche, die auf liebevolle Weise Russlands Kunst und Geschichte bewahrt.
Am 23. Dezember 2001 versammelte Alexander Sokurov 876 Schauspieler, mehr als 2.000 Statisten und seine Crew, um in einer einzigen Kamerafahrt 300 Jahre russische Geschichte zu erfassen. In 36 Stunden Vorbereitungszeit mussten die 33 prachvollen Säle ausgeleuchtet werden und alles für den einen, den einzigen Versuch bereit sein. Bisher war es nicht machbar, mehr als 46 Minuten auf ein Band zu bannen. Mitarbeiter der Firma „Director’s Friend“ machten es mit einer Neuentwicklung möglich, dass Sokurov 96 Minuten durchgehend auf einem tragbarem Harddisk-System filmen konnte.
Steadicam-Spezialist Tillmann Büttner, der schon bei „Lola rennt“ hervorragende Arbeit leistete, schwebt mit dem Kamera-Ich durch die opulenten Säle der Petersburger Eremitage - untermalt von der klassischen Dynamik dreier Live-Orchester. „Es ist der Traum jedes Kameramannes, einen Film in voller Länge in einem einzigen Atemzug zu photopraphieren“, begeistert sich Büttner für das Projekt. Bis zum Höhepunkt des Films, dem großen Ball am Petersburger Zarenhof, muss der Kameramann Schwerstarbeit leisten, um nicht von der Last seiner Steadicam erdrückt zu werden. Zwar hat „Russian Ark“ keinen wirklichen Schnitt, ganz ohne Zäsuren kommt der Film dann doch nicht aus. So zoomt sich die Kamera zum Beispiel ganz nah an Details heran, um kurze Zeit später im nächsten Raum mit einer Totalen wiederaufzutauen.
Monatelang probte Sokurov mit seinem Team aus Russland und Deutschland für den großen Augenblick. Alles musste stimmen. „Ich habe es satt, zu schneiden. Lasst uns keine Angst vor der Zeit haben.“ So einfach begründet der Regisseur sein filmisches Experiment. Die Frage ist natürlich, ob es überhaupt vorteilhaft ist, auf alle Schnitte zu verzichten. Zumindest manchmal merkt man deutlich, wie der Spannungsbogen am Ende der Raum-Szene sinkt. Eine gewisse pomadige Behäbigkeit erfasst „Russian Ark“ von Zeit zu Zeit. Doch das soll die Kühnheit des filmischen Kraftakts nicht großartig mindern. Sehenswert ist „Russian Ark“ auf jeden Fall – und lobenswert, wie der Mut der Filmemacher, sich auf ein derartiges Experiment durch 300 Jahre russische Geschichte – von der Gründung Petersburgs bis an den Vorabend des Ersten Weltkriegs - einzulassen.