Mörderische Flitterwochen mit Stil
Von Sidney ScheringAls Kenneth Branagh im Winter 2017 mit seiner Agatha-Christie-Verfilmung „Mord im Orient-Express“ einen Kassenschlager landete, stand schnell fest: Mit „Tod auf dem Nil“ soll ein weiterer Blockbuster um den von der legendären Krimiautorin erschaffenen Meisterdetektiv Hercule Poirot her. Dieses Vorgehen weckt Erinnerungen – denn schon in den 1970er-Jahren folgte auf eine megaerfolgreiche „Mord im Orient-Express“-Adaption direkt eine „Tod auf dem Nil“-Verfilmung. Anders als jetzt, wo Kenneth Branagh in beiden Filmen sowohl Regie als auch Hauptrolle übernimmt, gab es damals jedoch gleich mehrere bedeutende Wechsel vor und hinter der Kamera.
Zwar wurden sowohl der mit einem Oscar und fünf weiteren Nominierungen gekürte „Mord im Orient-Express“ von 1974 als auch sein vier Jahre später veröffentlichter Nachfolger von John Brabourne und Richard Goodwin produziert. Allerdings wurden Regielegende Sidney Lumet, „Goldfinger“-Autor Paul Dehn und Hauptdarsteller Albert Finney in „Tod auf dem Nil“ durch Regisseur John Guillermin („Flammendes Inferno“), Drehbuchautor Anthony Shaffer (der schon am Vorgänger mitwirkte, ohne dort im Abspann genannt zu werden) sowie den unvergleichlichen Peter Ustinov ersetzt. So kam ein klassischer Whodunit zustande, der seinem mit Stars vollgestopften Vorläufer zwar nicht ganz das Wasser reichen kann, aber dennoch mit prächtigen Bildern und vor allem der womöglich besten Poirot-Darbietung überhaupt ordentlich Eindruck schindet.
Peter Ustinov ist einer der besten Hercule Poirots überhaupt!
Die amerikanische Millionenerbin Linnet Ridgeway (Lois Chiles) versetzt den internationalen Geldadel in einen Zustand der Entrüstung: Sie heiratet nämlich einen armen Schlucker (Simon MacCorkindale)! Die geplante Hochzeitsreise entlang des Nils wird daher zur Tortur: Ein ganzer Haufen hasserfüllter Neider verdirbt dem frischvermählten Paar die Flitterwochen. Eines Tages nimmt dies sogar mörderische Ausmaße an: Linnet wird an Bord eines luxuriösen Fluss-Kreuzfahrtschiffes erschossen. Der Ausnahmedetektiv Hercule Poirot (Peter Ustinov), der zufälligerweise auch an Bord ist, begibt sich auf Spurensuche. Die Aufgabe, den Schuldigen ausfindig zu machen, stellt sich allerdings als äußerst kompliziert heraus. Denn die Liste an Verdächtigen ist lang und die an nachvollziehbaren Motiven sogar noch länger…
Weil ihr „Mord im Orient-Express“-Ermittler Albert Finney aus Angst, fortan auf die Rolle festgelegt zu sein, nicht zurückkehren wollte, mussten die Produzenten nach ihrem Welterfolg umdisponierten. Dabei beschlossen sie, gar nicht erst nach jemandem zu suchen, der Finney ähnelt, sondern mit Peter Ustinov eine ganz andere Richtung einzuschlagen. So gibt es zwar einen sofort sichtbaren Bruch zwischen den Filmen, trotzdem gehören sie eindeutig zusammen: Die Produzenten wiederholen ihr Erfolgsrezept des Vorgängers, indem sie sich erneut für eine Poirot-Geschichte vor exotischer Kulisse entschieden haben, die sich zu einem großen Teil auf einem romantisierten Fortbewegungsmittel abspielt.
Wie in „Mord im Orient-Express“ gibt es auch diesmal wieder ein umfassendes Spitzenensemble aus Stars verschiedener Leinwand-Ären, die in prächtige Kostüme gehüllt werden. Anthony Powell („Indiana Jones und der letzte Kreuzug“) bekam für seine wunderschönen, die Charaktere elegant zuspitzenden Designs auch folgerichtig die einzige Oscar-Nominierung des Films zugesprochen – und gewann dann sogar. Und wie schon im Vorgänger gilt: Das chic ausstaffierte Ensemble füllt seine Rollen nahezu ausnahmslos mit viel Esprit aus.
Unter den zahlreichen Verdächtigen stechen insbesondere eine gewitzte, leicht ironisch überspitzte Angela Lansbury („Mord ist ihr Hobby“) als angetrunkene Schundautorin, Maggie Smith („Harry Potter“) als grantige, beißend sarkastische Haushälterin sowie die Grande Dame Bette Davis („Alles über Eva“) als kleptomanische Adelige heraus. Aber über ihnen allen thronen die Ermittler: David Niven („König, Dame, Bube“) verkörpert mit spielerisch-leichter Eleganz den mit Poirot befreundeten Colonel Johnny Race, der die Tätersuche mit schneidiger Höflichkeit und einem dezent schnippischen Lächeln begleitet – und Ustinov vereinnahmt als scharfsinniger Schnauzbartträger die Szenerie mühelos für sich.
Schaulaufen der Verdächtigen - und der Superstars!
In „Tod auf dem Nil“ spielt Ustinov den Meisterdetektiv mit einer gewinnenden Balance aus Selbstverliebtheit, Einfühlungsvermögen und ironischer Distanz – als würde er in seiner eigenen Sphäre schweben und mit Freude an der Spurensuche auf den Fall herabblicken. Er agiert zugänglicher als der verschrobenere und eitlere Poirot von Albert Finney – und selbst wenn sich viele Christie-Expert*innen einig sind, dass Finney näher an Christies Texten agiert, funktioniert Ustinov auf der Leinwand schlicht hervorragend. In der komprimierten Erzählzeit eines Kinofilms braucht es die kürzeren Abstände zwischen den menschelnden Momenten, um das Publikum an den Detektiv zu binden – und Ustinov gelingt es ohne spürbare Anstrengung, in einem Atemzug zwischen echtem Mitgefühl und selbstunterhaltender Schnöseligkeit zu wechseln.
Es überrascht kein Stück, dass Ustinov noch fünf weitere Male gebeten wurde, Poirot zu spielen – dass er dann in den späteren Auftritten eher sich selbst spielt als eine Interpretation der Romanfigur, ist beim Betrachten von „Tod auf dem Nil“ glücklicherweise nicht von Belang. Was zählt, ist Ustinovs enorme Klasse in diesem Film. Trotzdem bleibt „Tod auf dem Nil“ dezent hinter seinem Vorgänger zurück, was vornehmlich auf Anthony Shaffers Drehbuchadaption der Vorlage zurückzuführen ist.
Schon in Christies Buch dauert es atypisch lang, bis es zum Mord kommt – er teilt den Kriminalroman in zwei nahezu gleich lange Hälften. Doch Christie gelingt es, die erste Hälfte mittels pointierter Charakterisierungen, angespannter Begegnungen und die Reiselust weckender Schauplatz-Beschreibungen trotzdem spannend zu gestalten. Die Filmvariante hingegen überdehnt sich im zweiten Drittel. Zwar versprühen die bildschönen, an Originalschauplätzen gefilmten Landschaftsaufnahmen von Kameralegende Jack Cardiff („African Queen“) exotisches Flair – und Guillermin lässt auf dem Flussdampfer S.S. Karnak inszenatorisch ebenfalls keine Langeweile aufkommen.
Dennoch gerät es erzählerisch auf Dauer monoton, wie Poirot in der Filmversion des Stoffes unentwegt zufällig in Hörweite herumsitzt, während die Reisenden in forciert-zugespitzten Gesprächen ihre etwaigen Motive vorkauen. Darüber hinaus fallen Simon MacCorkindale („Der weiße Hai 3“) und Mia Farrow („Rosemaries Baby“) mit ihrem aufgesetzten Spiel aus dem sonst so geschmackvoll-verschrobenen Cast heraus, weswegen die Sequenzen rund um ihre Figuren die Atmosphäre stören – da ist „Mord im Orient-Express“ von 1974 die stimmungstechnisch dichtere Mördersuche. Trotzdem bietet „Tod auf dem Nil“ große Krimiunterhaltung, bei der ein Schaulaufen der Stars auf prächtige Bilder trifft.
Fazit: Eine Parade an Stars voller Esprit und eine galante Ausstattung trösten über eine etwas überdehnt erzählte Leinwandadaption der zeitlosen Vorlage hinweg. „Tod auf dem Nil“ ist großes Krimikino mit leichten, aber verzeihlichen Schwächen.
„Tod auf dem Nil“ kommt im Januar 2022 noch einmal in einer neuen 4K-Fassung für einen Tag in die deutschen Kinos.