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    Sweet Sixteen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Sweet Sixteen
    Von Ulrich Behrens

    Zerbrochene soziale Beziehungen hat Ken Loach schon immer gnadenlos in Szene gesetzt – gnadenlos denjenigen gegenüber, die er dafür verantwortlich hält. Seine Filme wie „Mein Name ist Joe“ (1998), „Bread and Roses“ (2000) und zuletzt „The Navigators“ (2001) sprechen hier Bände. Loachs Inszenierungen sind visuell eindeutig und kompromisslos, und seine Protagonisten nehmen kein Blatt vor den Mund. Auch mit seinem neuen Film ist das nicht anders. Ein junger Teenager namens Liam (Martin Compston, Laiendarsteller), ein Ausgestoßener am Rande der Gesellschaft, versucht, eine Familie zu rekonstruieren. Die Mittel, die ihm dabei bleiben, sind vorgegeben. Von freier Entscheidung oder individueller Wahl kann keine Rede sein. Die soziale Prägung seines Umfelds und seiner selbst sind zu stark, um Alternativen auszuloten. Wie soll jemand alternativ handeln, wenn er keine Erfahrungen in dieser Hinsicht hat?

    Liams Mutter sitzt im Gefängnis. Jean (Michelle Coulter) war drogenabhängig, behauptet aber, sie sei jetzt schon Monate clean. Ihr Lover Stan (Gary McCormack), ein Schläger und Tunichtgut in jeder Hinsicht, sowie Liams Großvater Rab (Tommy McKee) wollen den Jungen zwingen, Rauschgift ins Gefängnis zu schmuggeln, um es bei einem Abschiedskuss seiner Mutter in den Mund zu schieben. Angeblich ist es nicht für sie, sondern andere Insassen. Doch Liam weigert sich und wird zur „Strafe“ von Stan brutal verprügelt. Stan und Rab schmeißen ihn aus der Wohnung, werfen seine Sachen vors Haus und zerstören Liams Teleskop. Liam zieht zu seiner 17-jährigen Schwester Chantelle (Annmarie Fulton, ebenfalls in ihrer ersten Rolle), die mit ihrem kleinen Jungen Calum (Calum McAlees) allein lebt. Chantelle hasst ihre Mutter, weil Jean sich nie um ihre Kinder gekümmert hat. Sie ist stets um Liam besorgt, der nicht zur Schule geht und geschmuggelte Zigaretten verhökert. Chantelle besucht einen Call-Center-Kurs, um in wenigen Wochen als Telefonistin Geld zu verdienen. Liam fasst nach dem Rausschmiss bei Stan und Rab einen Entschluss: Er will die Familie wieder zusammenbringen. Irgendwo an der Küste bei Glasgow findet er einen geräumigen und gut ausgestatteten Wohncontainer, den er kaufen will, um seine Mutter dort – weit von Stan und Rab entfernt – unterzubringen, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen wird. Um das nötige Geld zu bekommen, entschließt er sich, Stan das Rauschgift zu stehlen, um es in kleinen Portionen zu verkaufen. Moralische Bedenken hat Liam dabei nicht; er selbst nimmt kein Rauschgift. Zusammen mit seinem rothaarigen Freund Pinball (William Ruane) beginnt er mit dem Verkauf. Einige Tausend Pfund müssen her, eine Anzahlung kann Liam bald tätigen. Doch mit einem hat der junge Mann nicht gerechnet. Der örtliche Drogenboss Tony (Martin McCardie) ist entschlossen, jegliche Konkurrenz im Keim zu ersticken. Er zwingt Liam, für ihn zu arbeiten, weil er merkt, dass Liam gewillt ist, alles zu tun, um seiner Mutter den Wohncontainer zu kaufen. Diese Entschlossenheit will Tony für sich ausnutzen. Ab sofort arbeitet Liam für Tony. Nur Pinball geht dabei leer aus. Tony will den sprunghaften Kerl nicht beschäftigen. Pinball ist wütend, und aus Wut über Tony und Liam fackelt er kurzerhand den Wohncontainer ab, stiehlt Tonys Auto und fährt den Wagen in dessen Geschäft. Tony will, dass Liam „das Problem“ Pinball ein für allemal beseitigt, sprich seinen besten Freund ermordet ...

    Loach drehte seinen Film überwiegend mit Laiendarstellern, wie in vorherigen Filmen auch. Das verschafft der Inszenierung eine überraschende Frische in der Darstellung der Figuren. Die Trostlosigkeit des Lebens der Personen in den Glasgower Vororten Greenock und Invercyde gewinnt durch die Laiendarsteller eine überzeugende und bedrückende Natürlichkeit. Loachs Aussage scheint simpel, fast zu einfach, doch die Inszenierung verschafft dieser Aussage eine überzeugende Note. Liams Moral ist bedingt, relativ, den Lebensbedingungen angepasst. Er will nicht, dass seine Mutter Drogen nimmt und in das soziale, zerstörerische Umfeld zurückkehrt, in dem sie lebte. Er hat aber keine Bedenken, anderen Drogen zu verkaufen und damit dieses Umfeld wiederum zu stärken. Unmoralisch? Individuelles Verhalten und Bedingungen des sozialen Umfelds greifen hier ineinander, sind kaum voneinander zu trennen, wenn es um Schuld und Sühne geht. Loach macht gerade dies besonders deutlich.

    Für Liam zählt nur der Glaube an eine Rekonstruktion seiner Familie, in die er seine Schwester einbeziehen will. Als Tony ihm eine gute Wohnung anbietet – wobei er zur Bedingung macht, dass Liam seinen Freund tötet –, plant Liam, seine Mutter und seine Schwester mit ihrem Kind dort unterzubringen. Wird er Pinball töten? Die Rekonstruktion der Familie jedenfalls scheitert. Erst nach einer folgenschweren Handlung am Schluss des Films begreift Liam, in welchem sozialen und politischen Kreislauf er sich befindet, gefangen ist. Erst jetzt empfindet er so etwas wie eine Mischung aus Trauer, Mitleid und begreift, dass er sich den Gesetzen eines Systems unterworfen hat, das ihm Handlungsrichtlinien vorgibt, die er für völlig normal gehalten hat. Er kann weinen.

    Nicht nur Liam will eine Rekonstruktion sozialen Zusammenhangs auf einer anderen Ebene als in der Abhängigkeit von Stan und seinem Großvater Rab. Auch seine Schwester, die durch ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit 17 so erwachsen reagiert, wie manch andere, ältere Menschen es nicht vermögen, auch Chantelle will familiäre Bande. Nur, sie hat im Gegensatz zu Liam verstanden, dass beider Mutter in denselben Kreislauf von Abhängigkeit und Gewalt zurückkehren will, in dem sie sich vor der Haft befunden hatte. Jean sieht – trotz der Bemühungen ihres Sohnes – für sich kein anderes Leben. Dem Realitätssinn Chantelles steht die Illusion Liams gegenüber. Loach präsentiert eine Reihe von Personen, deren mehr oder weniger starke Abhängigkeit von einem System deutlich wird, dem kaum einer von ihnen entkommt oder entkommen kann. Pinball zum Beispiel, der sich nicht nur ausgegrenzt fühlt, erfährt den Ausschluss von den „Geschäftsbeziehungen“ zwischen Liam und dem skrupellosen Drogenhändler Tony als zusätzliche Diskriminierung, nicht als Chance, sich dem entsprechenden Ambiente zu entziehen. Seine Antwort ist dem analog: Rache. Tony ist so etwas wie ein lokaler Mafia-Boss, der sich in seiner „Drogenpolitik“ durch das Prinzip von Gefälligkeiten leiten lässt – ganz ähnlich übrigens der Darstellung der Corleones in Coppolas „Paten“-Trilogie: Wohnung gegen Mord, Schutz gegen Verkaufserfolge usw.

    Loach zeigt in „Sweet Sixteen“ seine Helden ernüchternd, hoffnungslos, ohne Chance, gefangen in einem System, das die Mehrheitsgesellschaft durch Ausgrenzung und Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen und Wünschen armer Schichten produziert und reproduziert. Die Tränen Liams am Schluss des Films weisen auf Chance wie Risiko: Liams Scheitern könnte eine Chance für ein anderes Leben sein; denn sein Wunsch nach sozialem Zusammenhang ist groß. Die Sanktionen, die er zu befürchten hat, könnten ihn allerdings auch in Einsamkeit und stärkere Einbindung in das System des kriminellen Milieus treiben. Der Film lässt das offen, muss es offen lassen. Die oft zu hörende Predigt des „freien Willens“ jedenfalls, der „freien individuellen Entscheidung“ stößt in dieser Geschichte auf harte Grenzen, wird zum Großteil zur Illusion einer Mehrheitsgesellschaft. Was bleibt, ist dieser kleine Rest von Freiheit am Schluss des Films, diese Millimeter-Möglichkeit für Liam, aus seinen Erfahrungen etwas anderes in seinem Leben zu tun als bisher. Loach gelang, wieder einmal, eine beeindruckende und bedrückende Studie, die noch dadurch gewinnt, dass die Sympathien des Regisseurs für seine Figuren offensichtlich sind. Es geht ihm nicht um Schuldzuweisungen oder Entschuldigungen. Es geht ihm darum, Verständnis zu schaffen.

    (Zuerst erschienen bei CIAO)

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