Die Pflicht eines jeden Moslems ist es, einmal in seinem Leben in das zentrale Heiligtum nach Mekka zu pilgern. Egal, wie weit der Weg ist, egal auch, wie beschwerlich und gegen welche Widerstände. Für einen gläubigen Moslem ist das keine Frage, auch wenn er sein halbes Leben in einem christlich geprägten Land verbracht hat. Für den in Frankreich geborenen Sohn, der dazu verdonnert wird, den Vater persönlich mit dem Auto die über 5000 Kilometer lange Strecke zu chauffieren, ist dies in Ismaël Ferroukhis Familiendrama „Eine große Reise“ beileibe kein Selbstverständnis.
Réda (Nicolas Cazalé) ist gerade mitten im Abiturstress, als sein betagter Vater (überzeugend stoisch: Mohamed Majd) zu seiner Pilgerreise nach Mekka aufbrechen möchte. Das Verhältnis zwischen den beiden ist alles andere als von Verständnis geprägt. Vielmehr leben sie nebeneinander her, ohne die Innenwelt des anderen auch nur zu erahnen. Wie auch, wissen sie doch kaum voneinander, in welchen Außenwelten sich ihr Leben abspielt. Konnten diese Parallelwelten in Frankreich noch leidlich nebeneinander existieren, so kollidieren sie unweigerlich in der Enge des altersschwachen Autos. Der Graben zwischen Vater und Sohn ist tief und liegt in wirklich allen Lebensbereichen mit seiner gähnenden, stummen Leere zwischen ihnen. Die Telefonate Rédas mit seiner französischen Freundin müssen heimlich vom Handy aus geführt werden, bis der Vater es entdeckt und mit entschlossener Miene dem nächst besten Abfalleimer an der Autobahn anvertraut. An einfachen Alltagsfragen wie der nach der besten Route scheiden sich die Geister der verschiedenen Kulturen, die Vater und Sohn sehr verschieden geprägt haben: während Réda sich durch Karten zurecht zu finden versucht, folgt der Vater seinem Instinkt. Auf der wechselvollen Reise durch Frankreich, Italien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien, die Türkei, Jordanien und schließlich Saudi-Arabien macht das ungleiche Paar Bekanntschaften, an denen deutlich wird, in welchen Welten sie leben. Hat zunächst der Sohn allein schon deshalb die Zügel in der Hand, weil der Vater nicht lesen kann, bewegt sich dieser immer souveräner, je stärker sein ursprünglicher Kulturkreis die Gesellschaften prägt, die beide durchstreifen. Die äußere wie die innere Wegstrecke der unfreiwilligen Gefährten verläuft dabei durchaus nicht linear und zielgerichtet. Mehrere selbst- und fremdverschuldete Umwege und Aufenthalte verzögern die Annäherung an das geographische Mekka, was durchaus symbolisch aufzufassen ist.
Trotz diverser Umwege bewegen sich beide Figuren aufeinander zu. Sie tun das ohne jede Sentimentalität, sondern zunächst aus rein pragmatischen Gründen, weil beide wissen, dass sie diese Reise irgendwie gemeinsam hinter sich bringen müssen. Dass der Vater sich auch nach 30 Jahren in Frankreich kaum von seinen Traditionen gelöst hat, zeigt bereits die Verabschiedung von der Familie. Verantwortlich für Ordnung und Wohlergehen ist ausschließlich der älteste Sohn, an den der Vater als einzigen persönliche Worte richtet. In nur wenigen Einstellungen gelingt es Ferroukhi, das Schweigen zwischen den Männern als eines zu zeigen, dass kennzeichnend ist für die Beziehung. Der Vater ist in der islamischen Kultur vielmehr weise Respektsperson als freundschaftlicher Vertrauter. Für den westlich sozialisierten Réda ist diese Hierarchie schwer akzeptabel. So beäugen sich beide fast misstrauisch wie frisch eingefangene Tiere (und das Auto stellt für beide tatsächlich ein Gefängnis ohne Alternativen dar), stets gefasst auf einen Übergriff des anderen auf die eigenen Lebens- und Sichtweisen. Die kommen auch regelmäßig. Trotz des weitgehend neutralen Blicks auf die beiden Charaktere, die unterschiedliche Kulturen verkörpern, wirkt der Vater unnachgiebiger in seiner Kritik am Sohn als umgekehrt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er in sich ruht, in seiner Überzeugung fest ist und in seiner Position kaum angreifbar ist. Réda hingegen ist mit seinen jungen Jahren noch auf der Suche nach sich, sein Aufbegehren kommt kurz und heftig, hat aber selten den langen Atem des Vaters. Letztlich kommt in seiner nachgiebigen Haltung zum Vorschein, wie sehr er sich nach Anerkennung vom Vater sehnt.
Bei so viel Gegensätzlichkeit könnte man durchaus gegenseitige Verachtung vermuten. In seiner Beobachtung der unbemerkten Blicke des einen auf den anderen lässt Ferroukhi jedoch stets hinter der Strenge oder der Wut eine Besorgnis um und Liebe für den anderen entdecken. Die langwierige und oft nur im Versteckten stattfindende Annäherung von Vater und Sohn beschreibt nicht nur ein universelles Beziehungsthema, es offenbart auch einen dankenswert ehrlichen Umgang mit Mulitkulturalität: Schlichte Forderungen nach Toleranz greifen zu kurz und führen zu Parallelwelten, wie sie Réda und sein Vater zu Beginn ihrer Reise etabliert hatten. Wirkliches Zusammenleben und Verständnis füreinander ist ungleich komplizierter: Die immer wieder gehemmte Kommunikation zwischen den beiden Figuren verweist darauf, wie schwierig es ist, die entscheidenden Fragen zu stellen und wie unangenehm die Antworten darauf sein können. Ferroukhi zeigt jedoch auch, dass gegenseitiges Verständnis möglich ist, ohne jede Einzelheit bis in letzte Detail ausdiskutiert zu haben.
In manchen Dingen bekommt keiner vom anderen Recht, und doch behält es jeder für sich. Dass bei Ferroukhi der Sohn letztlich freiwillig auf die Sichtweise des Vaters einschwenkt, dürfte nicht jedem Zuschauer nachvollziehbar werden. Zwar bezaubert die Landschaft mit ihrer Weite und die brüderliche Einigkeit der Gläubigen in Mekka besticht durch ihr stilles Einverständnis, so dass der Reiz der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft spürbar wird. Wodurch das persönliche Verhältnis sich von Verweigerung zu liebender Anerkennung wandelt, bleibt auch bei dem recht offenen Ende über den weiteren Weg, den Réda einschlägt, fragwürdig. Ferroukhi zeigt Facetten des Islam, die häufig hinter dem lauten Geschrei weniger Fanatiker verschwinden und liefert damit ein wohltuendes Gegenbild. Ob er wirklich zu einer besseren Verständigung beiträgt, bleibt offen. Sicher ist dagegen, dass seine ruhige Erzählweise und die intensive Darstellung von Cazalé und Majd eine Sogwirkung entfalten, durch die man in eine seltsam fremd-bekannte Welt eintaucht. Die sechs Jahre Entwicklungszeit haben sich also gelohnt und wurden bei den 61. Internationalen Filmfestspielen in Venedig als Bestes Spielfilmdebüt ausgezeichnet.