Wenn U2-Frontmann Bono den Hit „Sunday, Bloody Sunday“ anstimmt, singen Millionen mit. Aber wie viele dieser Menschen wissen, worum es in dem Song eigentlich geht? Paul Greengrass‘ (Die Bourne Verschwörung, Flug 93, Das Bourne Ultimatum) halbdokumentarisches Drama „Bloody Sunday“ schließt einen Teil dieser Bildungslücke: Auf beklemmend real anmutende Weise erzählt er, was sich am 30. Januar 1972, dem „Bloody Sunday“, in der nordirischen Stadt Derry abgespielt hat, als bei einer Demonstration 13 Zivilisten von britischen Fallschirmjägern getötet wurden.
Durch schnelle Schnitte zwischen Schauplätzen und Protagonisten wird die Geschichte aus den Blickwinkeln von Demonstranten, Militär und Organisatoren beleuchtet: Egal wohin Ivan Cooper (James Nesbitt, Match Point), Bürgerrechtsaktivist und Mitglied des britischen Parlaments, an diesem Tag geht, überall verfolgt ihn das unablässige Klingeln des Telefons. Die ständige Stresssituation hat einen guten Grund: Cooper hat, obwohl selbst Protestant, einen friedlichen Protestmarsch der katholischen Minderheit in Nordirland gegen die Internment-Politik der Regierung organisiert. Nun versucht er, die gewaltbereite IRA (Irish Republican Army) von der Demo fernzuhalten. Schnitt: Der 17-jährige Gerry Donaghy (Declan Duddy) wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen und kann es kaum erwarten, den Kampf für die Rechte der katholischen Minderheit wieder aufzunehmen. Schnitt: General Robert Ford (Tim Pigott-Smith, Flyboys), Befehlshaber der Bodentruppen in Nordirland, baut eine Kommandozentrale auf, um den Protest zu unterdrücken. Schnitt: Die militärischen Einheiten vor Ort gehen zur Überwachung der Demo in Position. Als sich eine Gruppe gewaltbereiter Steinewerfer vom friedlichen Demonstrationszug löst, beginnt die Situation zu eskalieren...
Sobald der Zuschauer sich an die anstrengende Erzählweise mit ihren ständigen Wechseln zwischen den Aktionsschauplätzen, den superschnellen Schnitten und Schwarzblenden gewöhnt hat, wird er unweigerlich von diesem Bilder-Strudel mitgerissen, der ihn ins emotionale Zentrum des Films führt: eine etwa 40 Minuten lange, ununterbrochene Kampfsequenz, in der die Konfrontation zwischen den Demonstranten und den Militärs ihren dramatischen Höhepunkt erreicht. „Bloody Sunday“ entfaltet dabei eine unglaubliche Unmittelbarkeit, die den Beobachter immer wieder vergessen lässt, dass es sich bei den Akteuren auf dem Bildschirm tatsächlich nur um Schauspieler handelt.
Dieser Effekt wird nicht nur durch die packende Darstellung des gebürtigen Nordiren John Nesbitt und den Einsatz von Schauspielern, die nicht wie Filmstars aussehen, erzielt. Auch und vor allem der halbdokumentarische Inszenierungsstil trägt seinen Teil bei. Die verwackelten Handkamerabilder, die minimale Ausleuchtung der Sets und der Verzicht auf Musik (mit Ausnahme des U2-Songs im Abspann) vermitteln den Eindruck, die Aufnahmen würden von einem Nachrichtenteam live vor Ort stammen.
Der Unterschied zwischen Greengrass‘ Blick auf das Geschehen und journalistischer Berichterstattung ist, dass die Filmkamera überall zugleich sein kann. Die Gewaltspirale, die schließlich zum Tod der Demonstranten führt, wird so von allen Seiten beleuchtet und auf einmalige Weise nachgezeichnet. Geradezu erdbebenhaft wird das Leben der Beteiligten erschüttert. Auch der Zuschauer zittert und schaudert angesichts der Eruption von Angst und unterdrückter Gewalt. Schwer verständlich ist einzig und allein der starke irische Akzent der Darsteller, weswegen der Film sogar in englischsprachigen Ländern nur mit Untertiteln gezeigt wird.
Greengrass gelingt es, beide Seiten des Konflikts relativ objektiv darzustellen. Dennoch schlägt sich „Bloody Sunday“ im Endeffekt auf die Seite der unterdrückten Katholiken, auch wenn man durch die Art des Erzählens dazu hingerissen wird, an eine unvoreingenommene Darstellung der Ereignisse zu glauben. Bis heute sind die Soldaten, die die Schüsse auf die Zivilsten abgefeuert haben, nicht zur Verantwortung gezogen worden, da noch immer nicht geklärt ist, wie genau es zu der Katastrophe kommen konnte. Die Soldaten sagten aus, dass die Demonstranten auf die Truppen geschossen hätten und diese das Feuer nur erwiderten. Es wurden bei den Opfern jedoch keine Waffen gefunden und viele von ihnen wurden laut Zeugenaussagen in den Rücken geschossen, während sie vor den Soldaten flohen. Andere hingegen wurden tödlich getroffen, während sie sich um Verletzte kümmerten. Ein zehn Wochen nach den Ereignissen veröffentlichter Untersuchungsbericht stützte die Aussagen der Soldaten, wurde jedoch von der Mehrzahl der Augenzeugen abgelehnt. Seit zehn Jahren wird in einer zweiten Studie erneut untersucht, was sich am 30. Januar 1972 wirklich abgespielt hat. Die Ergebnisse sollten eigentlich im November 2008 vorliegen, die Veröffentlichung wurde jedoch ohne Angabe konkreter Gründe um ein Jahr verschoben.
Fazit: Das gute Drehbuch, die mitreißende Erzählweise und der Inszenierungsstil, der beeindruckend nah am Geschehen dran ist, machen „Bloody Sunday“ zu einem intensiven Filmerlebnis. Fernab des Popcorn-Kinos erweckt Drehbuchautor und Regisseur Paul Greengrass ein geschichtliches Ereignis zum Leben, das den Beginn von 25 Jahren andauernden gewalttätigen Ausschreitungen zwischen der protestantischen Mehrheit und den rechtlich benachteiligten Katholiken in Nordirland markiert. Da bis heute nicht aufgeklärt ist, wie genau es zu den Gewalttaten am Bloody Sunday kam, hat der Text des U2-Songs auch heute, fast 40 Jahre nach den im Film beschriebenen Geschehnissen, nichts an Bedeutung verloren: „I can’t believe the news today. Oh, I can’t close my eyes and make it go away. How long... How long must we sing this song?“