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    All Or Nothing
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    All Or Nothing
    Von Ulrich Behrens

    Mike Leigh, der durch Filme wie zuletzt „Topsy-Turvy“ (1999) oder „Das Leben ist süß“ (1990), „Nackt“ (1994) und „Lügen und Geheimnisse“ (1996) zum führenden englischen Regisseur wurde, beschäftigt sich zumeist mit dem Leben der englischen working class. Auch sein neuer Streifen erzählt von der Tristesse und Hoffnungslosigkeit von Familien im südlichen Teil Londons. Im Mittelpunkt steht die Familie von Phil (Timothy Spall) und Penny (Lesley Manville).

    Phil ist Taxifahrer, Penny arbeitet als Kassiererin in einem Supermarkt der Kette „Safeway“. Ihre Ehe ist seit langem in Routine erstarrt. Ihr übergewichtiger Sohn Rory (James Corden) will nicht arbeiten, liegt zumeist auf der Couch, sieht fern, frisst seinen Frust in sich hinein und reagiert aggressiv auf seine Eltern. Rachel (Alison Garland), die ebenfalls übergewichtige Tochter der beiden, arbeitet in einem Altenheim, in dem sie von einem wesentlich älteren Kollegen ständig belästigt wird, und träumt sich über Liebesromane in Romanzen hinein. Während Penny früh aufstehen muss, um im Supermarkt den Hauptteil des geringen Familieneinkommens zu verdienen, fährt Phil erst später, vor allem auch abends und nachts Taxi. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Auch Phils Kollegen und Freund Ron (Paul Jesson) geht es nicht besser. Rons Frau Carol (Marion Bailey) ist Alkoholikerin, ständig betrunken, phantasiert sich im Suff durchs Leben. Sie ist mit Penny befreundet, ebenso wie Maureen (Ruth Sheen), die ihre Tochter Donna (Helen Coker) allein erzieht. Donna ist eines Tages schwanger – von ihrem „Freund“, der sie ständig beschimpft, misshandelt und ausschließlich Interesse an Sex mit ihr hat. Als er erfährt, dass er Vater werden soll, reagiert er aggressiv und schlägt Donna. Maureen, die ihre Tochter über alles liebt, nimmt die Schwangerschaft gelassen hin, versucht, ihrer Tochter zu helfen.

    Das einzige Vergnügen der drei Frauen Maureen, Carol und Penny ist die gelegentliche Teilnahme an Karaoke-Wettbewerben. Während es Maureen sichtlich Vergnügen bereitet, auf der Bühne zu singen, schüttet sich Carol zu, bis sie eines Tages völlig besoffen zusammenbricht. Phil hingegen ist neben seinem Sohn Rory das schwarze Schaf der Familie. Er hat es schon lange aufgegeben, an irgend etwas wie Glück zu glauben, fühlt sich von Penny „wie ein Stück Scheiße“ behandelt und glaubt, dass seine Frau ihn nicht mehr liebt. Als Rory, der keinen Freund hat und des öfteren einmal schwächere Jungens verprügelt, eines Tages auf dem Hof zusammenbricht, keine Luft mehr bekommt und von Maureen ins Krankenhaus begleitet wird, stellen die Ärzte einen Herzklappenfehler fest. Für seine Eltern und seine Schwester beginnt ein neuer Abschnitt im Familienleben. Plötzlich merken alle vier, dass sie aufeinander angewiesen sind, dass sie ihre Zuneigung füreinander im Alltag und in Problemen ertränkt haben ...

    Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass Mike Leigh für seine Figuren aus dem englischen Arbeitermilieu tiefe und ehrliche Solidarität empfindet. Das merkt man jedem seiner Filme an. Er zeigt Menschen, die für das Hollywood-Kino und für den Mainstream-Film kein Thema, keine Erwähnung wert sind. Leigh steht auf ihrer Seite, ohne sich der Gefahr der Glorifizierung seiner Charaktere auszusetzen. Er zeigt ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen, ihre Tristesse, Hoffnungslosigkeit, ihre Fehler, die sie zuhauf begehen, ihre Aggressionen und ihr Scheitern, aber auch die kleinen Dinge, durch sie oder einige von ihnen wieder Hoffnung schöpfen und Glück empfinden können. Phil ist im Grunde am Ende. Er erträgt nicht nur wortlos und widerstandslos die Ablehnung durch Penny, sondern auch die Anpöbeleien und Widerwärtigkeiten seiner Kunden im Taxi. Mit seinem Sohn Rory kommt er nicht zurecht, weiß nicht, wie er ihn aus seiner Lethargie herausholen soll, wo er doch selbst in Lethargie fast ertrinkt. Phil philosophiert über sein Leben: man wird geboren, lebt vor sich hin und merkt gar nicht, dass man eines Tages stirbt, weil das Leben und der Tod sich kaum unterscheiden. Leigh zeigt allerdings auch positiv eingestellte Menschen, die in der gleichen trostlosen Umgebung leben, aber sich von ihren Problemen nicht unterkriegen lassen: Maureen, exzellent gespielt von Ruth Sheen, begegnet den Anfeindungen ihrer Tochter Donna mit viel Sarkasmus und Humor, aber auch mit dem Gefühl, dass sie nichts wirklich grundlegend erschüttern kann. Als Donna ihr beichtet, schwanger zu sein, reagiert Maureen mit viel Liebe und Verständnis und sieht in der Schwangerschaft auch eine Möglichkeit, sich mit ihrer Tochter wieder auszusöhnen.

    Leigh und Kameramann Dick Pope zeigen in langen Einstellungen resignierte Menschen, vor allem Phil, den Timothy Spall als einen in jeder Hinsicht lebensmüden Menschen spielt. Allerdings liegt hier auch das Problem, das ich mit dem Film hatte. Spall – ein von mir sehr geschätzter Schauspieler, der schon in „Topsy-Turvy“, „Lügen und Geheimnisse“ und „Das Leben ist süß“ für Leigh arbeitete – scheint nur einen Gesichtsausdruck zu haben: den eines düster und verzweifelt drein schauenden Loosers. Marion Bailey spielt die ständig betrunkene und sich in eine andere Welt hinein phantasierende, völlig hilflose Carol in gleichmäßiger mimischer Monotonie. Selbst in einer Nebenfigur, dem französischem Fahrgast Cécile (Kathryn Hunter), überzeichnet Leigh eine seiner Personen in extremer Weise. Hunter wirkt, schon in ihrer äußerlichen Aufmachung als intellektueller Sonderling eher wie ein Abziehbild denn als Mensch aus Fleisch und Blut.

    Leighs Filme scheinen realistische Studien über tragische Figuren zu sein. Aber „All or nothing“ ist vor allem und viel eher ein Melodrama, das zumeist denselben Regeln folgt wie viele Hollywood-Melodramen, nur dass die Personen einem anderen Milieu entspringen. Leigh bricht die Tragik immer wieder durch einen fast trockenen Humor, sei es in Dialogen, sei es im Verhalten seiner Charaktere. Andererseits aber überzeichnet er die Dramatik der Geschichten, die er erzählt, oft in einer Weise, die seine Protagonisten in gefährlicher Weise zu fast schon lächerlichen Figuren werden lässt. Als sich Penny und Phil nach der Herzattacke von Rory aussprechen, ziehen sich zunächst Sprachlosigkeit, dann Vorwürfe Pennys durch die Szene, keiner findet die richtigen Worte, bis Phil endlich sagt, dass er sich ungeliebt fühle. Das Anliegen Leighs, hier die Hilflosigkeit personell zu fixieren, ist verständlich. Doch Spall und Manville spielen in dieser Szene nicht nur Hilflosigkeit, sie spielen auch hilflos. Das rückt diese Minuten des Films an den Rand der Lächerlichkeit, des herablassenden Zusehens, fast schon des Voyeurismus. Ähnliches gilt für eine andere Szene, als Lesley Manvilles Penny am Krankenbett von Rory sitzt. Sie spielt Verzweiflung, kämpft aber auch verzweifelt und erfolglos darum, dieser Verzweiflung einen passenden Ausdruck zu verleihen.

    Diese Überzeichnung in Handlung wie Figuren nimmt dem Film an Intensität und Überzeugungskraft, auch wenn die Schlussszene vielleicht vieles wieder „gut“ macht. Viel lebensnäher und glaubwürdiger hingegen sind die Rollen von Maureen und Rachel besetzt. Ruth Sheen spielt auch eine verzweifelte Frau, die erhebliche Probleme mit ihrer Tochter hat. Aber man fühlt sich ihr nahe. Alison Garland als Rachel hat in „All or nothing“ nicht viel zu sagen, in diesem Fall ein nicht zu überschätzender Vorteil. Denn Alison Garland spielt mit ihren Augen, ihren Bewegungen derart überzeugend, dass es keiner vielen Worte bedarf. Schon in der Anfangsszene des Films wird dies deutlich, als Rachel gezeigt wird, wie sie den Flur im Altersheim putzt. Auch James Corden als übergewichtiger Sohn Rory konnte mich beeindrucken in seinem Spiel zwischen Lethargie und physischer wie verbaler Aggression. Corden und Garland wirken nie lächerlich, der Blick auf sie ist nie extrem voyeuristisch, man fühlt mit diesen beiden Jugendlichen mit.

    Ich kann mich der weit verbreiteten Sympathie für diesen Film Leighs nicht anschließen. Leider wirkt er durch melodramatisch-voyeuristische Übertreibungen vor allem in den langen Einstellungen auf Phil und Penny wie der Blick eines Intellektuellen auf Looser aus der Arbeiterklasse – im Unterschied etwa zu Ken Loachs „The Navigators“ (2001), der vor kurzem im Kino zu sehen war. Dementsprechend waren auch die Reaktionen einiger Zuschauer im Kino. Sie lachten ständig über (!) Leighs Figuren, aber nicht mit (!) ihnen. Man schaut offenbar lieber von oben herab auf sie, statt mit ihnen zu fühlen.

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