Drei junge Männer (Kazushi Watanabe, Takeo Noro, Ryo Shinmyo) fahren mit einem Auto durch die Gegend und kidnappen ohne ersichtlichen Grund den Studenten Usami (Daijiro Kawaoka). Der versucht zu Beginn noch zu fliehen, doch seine Fluchtversuche scheitern und er fügt sich schließlich seinen Entführern. Man geht einkaufen und essen, holt sich mal einen anderen Wagen und landet schließlich am Meer, wo ein weiterer junger Mann mit der Aufschrift „Happy“ auf dem T-Shirt (Masashi Endô) entführt wird. Auch der will fliehen, doch sein Versuch Usami auf seine Seite zu ziehen scheitert. Zwischen diesem und den drei Entführen hat sich eine intensive Beziehung entwickelt, so dass er sich seinen Entführern stärker verpflichtet fühlt als dem anderen Opfer. Irgendwann erschießt er „Happy“ sogar, nachdem dieser ihn zuvor angegriffen hatte, und macht sich mit seinen drei Entführern weiter auf den Weg. Mittlerweile fast fester Bestandteil der Gruppe, wird er jedoch irgendwann auf einer leeren Straße gegen seinen Willen ausgesetzt und bekommt eine Ein-Dollar-Note in die Hand.
Das ist die Story des Road-Movie-Dramas „19“, dem Debütlangspielfilm des jungen Regisseurs Kazushi Watanabe (Jahrgang 1976). Sein Film beruht auf einer wirklichen Begebenheit, die einem Freund widerfahren ist. Auch dieser wurde ohne ersichtliches Motiv von drei Leuten entführt und nach einer Irrfahrt freigelassen; mit einer Dollarnote in der Hand. Die Geschichte dazwischen ist größtenteils erfunden. Warum die drei jungen Männer den Studenten entführt haben und ihm zum Abschied eine Dollarnote gaben, weiß auch Watanabe nicht zu beantworten.
Er will dies auch gar nicht. Fehlende Motive sind in „19“ an der Tagesordnung. Warum die drei Männer, die nie bei einem Namen genannt werden, aber nachträglich vom Regisseur mit den Namen von japanischen Städten bedacht wurden, den Studenten entführen? Warum sie mit ihn - mehr oder wenig ziellos – durch die Gegend fahren? Das sind Fragen, die nicht beantwortet werden, die sich aber auch kaum stellen. „19“ ist kein Film im klassischen Sinne, der eine Story erzählt, in dem er zu Beginn Fragen aufwirft und diese am Ende auflöst. Vielmehr trifft es die Bezeichnung „Zustandsbeschreibung“ oder die Lesart als eine Kritik an einer leb-, motiv- und ziellosen Gesellschaft. In den Augen eines Teils der jungen Generation ist das eigene Leben perspektivlos. Dies wird beschrieben. Die Protagonisten fahren einfach mit dem Auto quer durch Japan und scheren sich um nichts. Sie gehen im Supermarkt „einkaufen“, fahren aber dabei einfach mit dem Einkaufwagen an der Kasse vorbei, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, zu bezahlen. Sie achten die Gesetze nicht, sie nehmen sich einfach den nächstbesten Pkw, der gerade herum steht. Sie achten dabei nicht auf Äußerlichkeiten, weder bei Autos noch bei sich selbst, und der Tod ist ihnen sowie egal. Sie leben im dauerhaften Zustand einer Art Rebellion gegen die übrige Gesellschaft, doch diese ist mittlerweile nur noch eine Pseudo-Rebellion, da ihr „driften“ durch das Leben, sich kaum mehr von dem der restlichen Gesellschaft unterscheidet.
In den Dialogen wird dies immer wieder deutlich. Bei der Frage, wen er rettet, wenn die zwei für ihn liebsten Menschen an einer Klippe hängen würden, und er nur einem helfen könnte, antwortet einer der Entführer: Er würde einen retten und mit dem Anderen gemeinsam in den Abgrund springen. So ist es konsequent, denn nur so ist er nicht allein, hat niemanden verloren. Fast widersprüchlich dazu hat der Anführer ein Kreuz um den Hals hängen, ein Symbol für das Leben nach dem Tod, an welches die drei aber offensichtlich nicht glauben. Trotzdem haben sie keine Angst vor dem Tod, er wird kommen und er wird ihnen vielleicht sogar willkommen sein. Sie sind sowieso völlig perspektivlos. Passend dazu ist auf dem Lieblingsbild des dauernd fotografierenden Entführers nichts zu sehen.
Man sollte nun nicht den falschen Eindruck bekommen, dass „19“ eine Ansammlung von Statements sei, ein Film, der seinem Zuschauer immer wieder eine Botschaft einbläut. Nein, dass trifft überhaupt nicht zu. Vielmehr lässt er sich als ein langsamer Roadtrip, der auch von Jim Jarmusch stammen könnte, beschreiben. Dabei ist aber alles so vollkommen und durchgängig stimmig, wie es selbst dieser nur an seinen besten Tagen geschafft hat.
Kazushi Watanabes Inszenierungsstil ist eine Offenbarung. Jede Einstellung, jeder Schnitt ist an der richtigen Stelle. Die Bildfolge ist dabei nicht flüssig, immer wieder wird der Film unterbrochen. Nach einer kurzen Schwärze kommt plötzlich eine völlig neue Szene, die handelnden Personen sind auf einmal irgendwo anders. Die Kameraführung ist reserviert zurückhaltend, dabei aber immer passend. Dazu kommt der ganz besondere Look. Watanabe hat „19“ auf Super-16mm gedreht. In der Post-Produktion wurde der Film digital nachbearbeitet und mehrfachen Materialtransfers unterzogen. Schließlich wurde das Werk auf NTSC ausgespielt und danach auf 35mm-Film transferiert. Watanabe selbst sagt, dass er hierbei sehr viel ausprobiert hat, es sehr viel experimentelle Arbeit war, um den richtigen Ton zu finden. Dies ist ihm gelungen. Das Bild ist ganz ausgebleicht. Immer wieder stechen dabei plötzlich einzelne Farben heraus. Der besondere Look unterstreicht die Atmosphäre des Films ungemein und schafft es, den Zuschauer in sich aufzuziehen und so zu fesseln. Verstärkt wird dies noch durch den nicht weniger unkonventionellen, aber genialen Soundtrack. Immer wieder durchdringen Gitarrenriffs von Octabeer die Szenerie, erinnern dabei an den ähnlichen Soundtrack in Jim Jarmuschs Dead Man, instrumentalisiert von Neil Young.
Die geniale Atmosphäre wird durch die Charaktere weiter verstärkt. „19“ bietet einige der coolsten Filmcharaktere aller Zeiten auf. Der vom Regisseur selbst gespielte Anführer der Entführer könnte genauso gut durch Quentin Tarantinos Pulp Fiction wandeln und würde in Coolness den dortigen Charakteren in nichts nachstehen.
Bei den Schauspielern wurde auf eine Mischung aus Laien und Profis gesetzt. Die beiden anderen Entführer werden von zwei Freunden des Regisseurs gespielt. Alle drei Entführerdarsteller sind eigentlich keine Schauspieler. Die Rolle der beiden Opfer übernahmen dagegen mit Daijiro Kawaoka ein Seriendarsteller und mit Masashi Endô ein Filmschauspieler (unter anderem „Wild Zero“). Für einen kurzen Auftritt als Polizist wurde zu dem noch Nachi Nozawa gecastet. Dieser ist in Japan nicht nur als Schauspieler, sondern vor allem als Synchronstimme von Al Pacino und Alain Delon bekannt, was auch als doppeltes Zitat verstanden werden kann. Gerade die Coolness von Delons Paraderolle Jef Costello aus „Le Samourai“ (deutscher Titel: „Der eiskalte Engel“) findet sich in den Charakteren zumindest zwei der Entführer wieder.
„19“ ist eine vor Coolness strotzende, visuelle Offenbarung. Trotz der emotionalen Kälte der Figuren wird der Zuschauer mitgerissen und der Faszination des unglaublich ausgereiften Debütwerks kann man sich kaum entziehen. Dazu kommen die zahlreichen denkbaren Lesarten, die es einem möglich machen, den Film unter immer neuen Gesichtspunkten anzuschauen. Watanabe sagt im Interview auf der DVD, dass bei den Aufführungen in zahlreichen verschiedenen Ländern, sein Film immer ganz anders aufgenommen wurde. In Frankreich war man zum Beispiel schnell mit der Bezeichnung „Arthouse Kino“ bei der Hand. Dort fühlte man sich wohl (zu Recht) an Truffaut oder Godard erinnert. In Deutschland präsentierten sich die Feuilletonschreiber der großen Zeitungen bei den Kinoaufführungen Ende 2002 und Anfang 2003 in seltener Einmütigkeit. Von einem „Geniestreich“ war sogar die Rede. Es ist genauso wenig eine Übertreibung wie sich „19“ vor den Filmen eines Godard, Truffaut oder Jarmusch verstecken muss.