Im vergangenen Jahr bewegte Baz Luhrmanns bombastisches Musical „Moulin Rouge" Zuschauer wie Kritiker. Allerdings stieß das vor Fantasie und Farbenpracht überbordende Werk auch bei einigen auf Ablehnung. Too much of everything - ein visueller Overkill, nölten sie. Dieses Schicksal wird dem Golden-Globe-Sieger und Oscarfavoriten “Chicago” nicht wiederfahren. Das Kino-Debüt von Rob Marshall ist optisch brillant, superb gespielt und fast schon visionär geschnitten und montiert – nur der letzte Funke will nicht so recht überspringen, sodass „Chicago“ im Endeffekt etwas zu brav hinter „Moulin Rouge" zurückbleibt.
Chicago in den Roaring Twenties: Sie sind so verschieden wie Tag und Nacht. Diva Velma Kelley (Catherine Zeta-Jones) ist da, wo die scheinbar naive Roxie Hart (Renée Zellweger) hinmöchte. Auf die Bühne - und genauso ein Star werden wie das kühle Vamp, dem die Männer zu Füßen liegen. Doch eines sollen beide gemeinsam haben. Sie werden zu Mörderinnen. Velma erwischt ihren Mann mit ihrer Schwester ihm Bett - und erschießt beide. Roxie betrügt ihren Gatten Amos (John C. Reilly), um die Karriere voranzutreiben - mit wenig Erfolg. Sie wird von ihrem Liebhaber wie der letzte Dreck behandelt - und erschießt ihn ebenfalls. Im Knast buhlen die Rivalinnen um die Gunst des Staranwalts Billy Flynn (Richard Gere) - denn der garantiert, seine Mandantin für 5.000 Dollar aus dem Gefängnis zu holen. Roxie sticht Velma mit einer List aus, und wird von Flynn vertreten. Der setzt alles in Bewegung, um seinen Schützling zu retten. Er lanciert Zeitungsartikel, lügt und betrügt - und macht Roxie schon hinter Gittern zum Zeitungsstar. Als sie wieder in Freiheit ist, muss sie erkennen, dass ihr Starruhm schon wieder fast verblasst ist...
Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte von „Chicago“ wurde schon in allen möglichen Kunstformen verarbeitet. Maureen Dallas Watkins schrieb 1924 eine Gerichtsreportage und 1926 ein Bühenstück, ein Stummfilm (1928) folgte, später ein Tonfilm (1942) bis 1975 das Musical Premiere feierte und 1997 erfolgreich reanimiert wurde. Nun nimmt sich der gefeierte Bühnen-Choreograf Rob Marshall in seinem Regie-Debüt der fiebrigen Saga um Verbrechen, Macht und Medien an. Die Eröffnungssequenz zeigt gleich an, was „Chicago“ auszeichnet, so ereignisreich macht. Während Catherine Zeta-Jones („Traffic", Verlockende Falle“) eine begeisternde Version von „All that Jazz“ auf die Bühne bringt, wird parallel in die Handlung eingeführt. Dieses Prinzip zieht sich durch den gesamten Film. In der Kriminalgeschichte wird nicht getanzt und gesungen, das passiert zumeist in Traumsequenzen der Protagonisten. Doch die Grenzen zwischen diesen beiden Welten verschmelzen immer sehr homogen. Wesentlich bemerkenswerter ist jedoch die außergewöhnliche Schnitttechnik des Films. In kühnen Schnitt-Gegenschnitt-Montagen verschwimmen Trennungen zwischen Realität und Fiktion zu einem pulsierenden Cocktail aus Sex, falscher Moral, der Gier nach Berühmtheit und Medienmanipulation.
Rob Marshalls Stärken sind offensichtlich. Die Tanz- und Singnummern sind brillant choreografiert, Richard Gere („Untreu", „Die Mothman-Prophezeiungen") überrascht als guter Stepper und endlich auch mal wieder als überzeugender Schauspieler. Als mediengeiler Manipulateur, der in der entscheidenden Gerichtsszene in einer zirkusreifen Inszenierung alle an der Nase herumführt, hat er sich seinen Golden Globe durchaus verdient. Umso erstaunlicher und unverständlicher ist die Tatsache, dass er trotz 13 Nominierungen für „Chicago“ bei den Oscars übergangen wurde. Renée Zellweger („Bridget Jones", „Jerry Maguire“) und Catherine Zeta-Jones gebührt diese Ehre zurecht. Treiben die beiden unterschiedlichen Diven den Film doch voran und hauchen ihm Leben ein. Tänzerisch und gesanglich macht Zeta-Jones, die mit „42nd Street“ schon auf der Bühne stand, den besseren Eindruck, allerdings holt Zellweger dieses Defizit mit ihrem naiven, aber hintergründigen Charme wieder auf.
Vor allem die eindeutigen Vorzüge des Mediums Film nutzt Marshall in vollen Zügen. Auf der Bühne gibt es keine Naheinstellung, kein Blick ins Gesicht des Hauptdarstellers, keine famosen Schnitte. Seine Inszenierung strahlt pure Opulenz aus und wird dabei nie lächerlich – diese Gefahr besteht bei einem Musical ja immer. Er erzählt seine Geschichte stringent, verliert sich nicht in Mätzchen oder verquasten Moralvorstellungen. Seine Mörderinnen sind alles andere als unschuldige Opfer – trotzdem gehören ihnen die Sympathien. Ganz nebenbei ist „Chicago“ eine Satire auf die amerikanische Justiz und die Verlogenheit der Medien.
Doch zu einem ganz großen Meisterwerk fehlt trotzdem etwas. Vielleicht ein wenig Kühnheit – genau das, was Baz Luhrmanns „Moulin Rouge" so berauschend machte, dieser Wille, über das bisher Gesehene hinaus zu gehen. In letzter Konsequenz bleibt „Chicago“ im direkten Vergleich zu brav. Die Tanzstücke sind allesamt bravourös, aber weniges bleibt sofort im Ohr wie bei Luhrmanns Pendant. So ist „Chicago“ ein guter, ein starker Film, der bei der Oscarverleihung bessere Karten hatte als Peter Jacksons „Herr der Ringe - Die zwei Türme" - denn die Academy liebt diese Stoffe wie die sieben Oscars beweisen...