Bereits mit seinem ersten Animationsfilm in Spielfilmlänge, dem beklemmenden Psycho-Thriller Perfect Blue, hatte Satoshi Kon auf sein Talent aufmerksam machen können. Sein zweites Werk mit dem Namen „Millenium Actress“ geht zwar nun in eine ganz andere Richtung, hat aber das Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen beibehalten. Das Drama behandelt die Lebensgeschichte der fiktiven japanischen Schauspielerin Chiyoko Fujiwara, die vor 30 Jahren auf dem Zenit ihrer Karriere plötzlich untertauchte und nie wieder einen Film drehte. Die Reise durch Chiyokos bewegtes Leben wird dabei zu einer Fahrt durch die japanische Filmgeschichte und unterschiedlichsten Filmgenres und verdeutlicht, dass man von Satoshi Kon wohl noch so einige ungewöhnliche Filmprojekte erwarten kann.
Regisseur Genya Tachibana möchte schon seit Ewigkeiten ein Interview mit der von ihm angebeteten Filmschauspielerin Chiyoko Fujiwara realisieren. Nun hat der ehemalige Leinwandstar endlich seine Erlaubnis zu einem Interview erteilt und der Regisseur macht sich voller Vorfreude mit seinem wenig begeisterten Kameramann Ida auf, um die seit 30 Jahren zurückgezogen lebende Actrice zu besuchen. Vor dem Interview überreicht Genya Tachibana ihr einen alten Schlüssel, welchen der Star früher immer um seinen Hals trug und wie einen Augapfel hütete, ihn dann aber beim Dreh des letzten Films verlor. Angerührt von dem für sie so wichtigen Präsent beginnt sie ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Dabei spielt der Schlüssel eine besondere Rolle. Wurde er ihr doch von einem revolutionären Maler anvertraut, in den sie sich Hals über Kopf verliebte, als sie ihn für eine Nacht vor der Polizei versteckte. Der unbekannte Fremde, dem Chiyoko ihr Herz geschenkt hatte, war am nächsten Tag bereits verschwunden, und sie schwor, sich auf die Suche nach ihrer großen unbekannten Liebe zu machen. Bereits nach den ersten Worten der 73-Jährigen finden sich Herr Tachibana und sein Kameramann in den Erinnerungen und Filmen der großen Schauspielerin wieder und tauchen ein in die Geschichte ihres Lebens, ihre Filmographie und letztlich auch in die Geschichte des Schlüssels.
Ausgehend von dem Interview mit Chiyoko lässt Regisseur Satoshi Kon den Zuschauer in die Erinnerungen und Filme der ehemaligen Schauspielerin versinken, die in einer weitaus engeren Beziehung zu ihrem Leben stehen, als man vermuten mag. Doch nicht nur für den Zuschauer, auch für die zwei anderen am Interview beteiligten Personen verschwimmen Realität, Erinnerungen und Filmsequenzen. So findet sich der Regisseur mit seinem Kameramann zum Beispiel einmal in einer brennenden, von feindlichen Kriegern bedrohten japanischen Burg wieder, in welcher Chiyoko, hier in der Rolle als Prinzessin, ein Geist in Form einer alten Frau mit Spinnrad erscheint und ihr prophezeit, dass es ihr Schicksal sei, im ewigen Feuer des Begehrens zu schmoren. Diese Weissagung hat dabei sowohl für die Filmrolle Chiyokos als auch für ihre wirkliche Lebensgeschichte Relevanz und dass die gespenstische Erscheinung Erinnerungen an Kurosawas Klassiker „Das Schloss im Spinnwebwald“ wachruft, verdeutlicht den Status, den die japanische Filmgeschichte, in deren Kontext sich Chiyokos Geschichte auf der Suche nach Liebe entfaltet, innerhalb des gesamten Films einnimmt.
Chiyoko ist bei dem Lauf durch unterschiedliche Zeiten und Filmgenres stets auf der Suche nach dem geheimnisvollen Mann, der ihr den Schlüssel gab, nimmt dabei aber unterschiedliche Rollen an. So ist sie eine resolute Ninjakämpferin, eine verzweifelte Geisha in der Edo-Epoche, eine Frau zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs oder eine mutige Astronautin, was dabei all die unterschiedlichen Frauengestalten verbindet ist, dass sie sich alle auf der Suche nach ihrer großen Liebe befinden. Regisseur Genya Tachibana, der Interviewführer, ist natürlich Feuer und Flamme, als er sich in seinen Lieblingsfilmen mit seiner Filmgöttin Chiyoko wiederfindet und übernimmt schon bald selbst begeistert Schauspielparts innerhalb dieser Filmrealitäten, was für einige witzige Momente sorgt. Und auch der sich nie wirklich auf die Realitätssprünge einlassende Kameramann Ida sorgt mit seinen abfälligen, zynischen Sprüchen merklich für Auflockerung.
Sah man „Perfect Blue“ teils noch die zuerst geplante Direct-To-Video-Bestimmung bezüglich der Animationen an, ist „Millenium Actress“ klar ein Schritt nach vorne und braucht sich mit satten Farben, abwechslungsreichen Sets und detailreichen Hintergründen vor anderen fürs Kino produzierten Animationsfilmen nicht zu verstecken. Trotzdem bleibt aber das markante Charakterdesign aus „Perfect Blue“, welches fernab von Schönheitsidealen mehr auf die Realitätsnähe von Animationsfiguren abzielt, bestehen, so dass der Film klar als Werk des Regisseurs Satoshi Kon identifiziert werden kann. Die im Kern sehr simple Geschichte einer hoffnungslos verliebten Frau, welche mehrere Jahrzehnte hindurch nach ihrer großen Liebe sucht, wird durch die komplexe Erzählweise, die Einbettung in die Filmhistorie sowie die überbrodelnde Symbolik erst richtig interessant. Dabei ist es eine wahre Freude, mit welch künstlerischer Finesse Kon die einzelnen Zeit- bzw. Realitätsebenen mittels Match Cuts und sanfter Überblendungen ineinander übergehen lässt. Der Weg ist das eigentliche Ziel, und dies ist bei „Millenium Actress“ auf mehrere Ebenen zu beziehen.
Dass in Folge der immer wieder stattfindenden Zeitsprünge sowie Chiyokos Rollenwechsel der Film nicht zu einem fragmentarischen Etwas verkommt, liegt zum Großteil an Kons handwerklichem Geschick. Aber auch daran, dass der Film sich auch innerhalb der verschiedenen Filmebenen auf eine kleine Anzahl von Figuren, die dann immer wieder in verschiedene Rollen schlüpfen, beschränkt, sowie der Tatsache, dass Chiyoko selbst unheimlich sympathisch und menschlich geraten ist. So ist der Zuschauer gewillt, ihre Geschichte, die sich eben auch über unterschiedliche Filmrollen definiert, mitzuverfolgen. Trotzdem geht bisweilen der Wechsel von der einen zur anderen Filmebene, schon allein auf Grund der Fülle an unterschiedlichen Realitäten, doch etwas zu schnell vonstatten. Für die Musik zeigt sich Susumu Hirasawa verantwortlich, der mit seinen extravaganten Synthesizerklängen die Dynamik der Suche Chiyokos widerspiegelt und zugleich zusammen mit dem einfach gehaltenen Kernmotiv von der ewigen Suche nach Liebe und Glück einen roten Faden durch die verschiedenen Film- und Zeitepochen bildet.
„Millenium Actress“ ist ein außergewöhnliches Animationsdrama, welches seine Faszination aus der innovativen Erzählweise bezieht. Diese basiert auf dem ständigen Wechsel der Realitätsebenen, dem hohen künstlerischen Niveau beim Entfalten der symbolschwangeren Story sowie der sozusagen nebenbei stattfinden Fahrt durch die japanische Filmgeschichte.