John Sayles war immer eine Randfigur im amerikanischen Filmgeschäft, ein Außenseiter, der sich bewusst für diese Rolle entschieden hat. Ganz kurz, 1991/92, sah es einmal fast so aus, als ob die Zeit seines sozial engagierten, aber niemals einseitigen Kinos gekommen wäre. Mit „City Of Hope“ und „Passion Fish“ konnte er erstmals größere Aufmerksamkeit erregen und sich als zentrale Kraft im Kosmos des Independent-Films etablieren. Seine zutiefst demokratische Version eines politischen Kinos, das eher die Diskussion als den Kampf sucht, passte perfekt in die Zeit vor der Wahl Bill Clintons. Doch seither haben sich die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten radikal verändert. Schon in den Clinton-Jahren fand Sayles nicht das Forum, das seine Arbeiten brauchen. In der zweiten Bush-Ära wurde er dann endgültig wieder an den äußersten Rand Hollywoods gedrängt. Er ist sich die ganze Zeit über zwar treu geblieben und hat weiter seine vielstimmigen Gesellschaftspanoramen gedreht, nur haben sie kaum noch Beachtung gefunden – ob sich das nun ändert bleibt abzuwarten. Wie aktuell und wie anregend Sayles Arbeiten sind, selbst noch Jahre nach ihrer Entstehung, davon zeugt sein schon 2003 entstandenes Ensembledrama „Casa De Los Babys“, das erst jetzt einen deutschen Verleih gefunden hat.
Die „Casa de los babys“, das „Haus der Babys“, ist ein kleines, von der resoluten, aber verbitterten Señora Muñoz (Rita Moreno, Singin’ In The Rain, „West Side Story“) geführtes Familienhotel. Hier schlagen all die Amerikanerinnen ihre Zelte auf, die in der mexikanischen Kleinstadt ein Baby adoptieren wollen. Oft müssen sie sich Wochen oder gar Monate gedulden, bis ihre Anträge endlich durchkommen. Es ist eine Zeit des Wartens und der Unsicherheit, der Einsamkeit und der Fragen, mit der sie alle auf ihre Art zu kämpfen haben. Nan (Marcia Gay Harden, Mystic River, Der Nebel) tritt extrem aggressiv auf, nicht nur den Mexikanern gegenüber, auch ihre Leidensgenossinnen müssen sich irgendwie mit ihrem autoritären Gehabe arrangieren. Der aus Irland stammenden Eileen (Susan Lynch, From Hell, Das große Rennen) geht langsam das Geld aus. Und die junge Jennifer (Maggie Gyllenhaal, Donnie Darko, Dark Knight) zerbricht nach und nach an dem Druck, den ihr Mann aus den Staaten auf sie ausübt...
Für die einzelnen Menschen, also für die wohlhabenden Amerikanerinnen, die sich in Mexiko ihren oft geradezu verzweifelten Kinderwunsch doch noch erfüllen können, genauso wie für die Babys, die so die Chance erhalten, in einer Familie und nicht auf der Straße groß zu werden, ist diese seltsame Form des Tourismus natürlich ein Segen. Nur kann ein System, in dem Kleinkinder zu einem der wichtigsten Exportgüter eines Landes geworden sind, auf Dauer funktionieren? John Sayles gibt auf diese Frage keine Antwort – das würde auch gar nicht zu seinem Verständnis von Kino passen, das den Betrachter aktiv fordert. Aber sie steht hinter allem, was er erzählt und zeigt.
Mehr als zehn Handlungsstränge und Geschichten verwebt John Sayles in seiner nüchternen, fast schon dokumentarisch anmutenden Bestandsaufnahme der Verhältnisse zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, die eben auch die grundsätzlich prekäre Stellung der Ersten und der Dritten Welt zueinander spiegeln. Da sind auf der einen Seite sechs Amerikanerinnen, die von der Armut in ihrem Nachbarland profitieren und die Augen vor den Voraussetzungen ihres Glücks verschließen. Auf der anderen Seite stehen die jungen Frauen, die ungewollt schwanger werden und gar nicht die Möglichkeit haben, ihre Babys selbst groß zu ziehen, weil sie mit ihren schlecht bezahlten Jobs gerade so über die Runden kommen.
Es wäre einfach, diese Seiten gegeneinander auszuspielen: Da gäbe es dann die ausgebeuteten Mexikaner und die imperialistischen Amerikaner, die dem Land die Kinder rauben. So in etwa sieht der Sohn von Señora Muñoz die Situation. Er gehört zu den Radikalen, die immer wieder mit der mexikanischen Justiz in Konflikt kommen und Repressalien ausgesetzt sind. Schon das verzerrt seine Perspektive. Trotzdem hat auch er auf seine Weise Recht, wie letztlich alle Figuren, die Sayles für einen Tag und den darauffolgenden Morgen beobachtet. Die Verhältnisse, die der Filmemacher aus so vielen Blickwinkeln wie nur eben möglich beleuchten will, machen Schuldzuweisungen zwar nicht unmöglich, aber kontraproduktiv. Aus der Erkenntnis, dass alle auf allen Seiten ihre Gründe haben und dass die längst nicht nur schlecht sein müssen, erwächst bei Sayles keine Beliebigkeit, sondern eine besondere Dringlichkeit. Etwas muss geschehen, und das geht weit über alles hinaus, was ein Einzelner leisten kann.
Aus John Sayles’ Offenheit für all die oft widersprüchlichen Faktoren, die das Handeln der Menschen lenken und prägen, resultiert dann auch eine bemerkenswerte Komplexität der Charaktere. So ambivalente und so vielschichtige Figuren, wie er sie schafft, sind selbst für das unabhängige amerikanische Kino alles andere als selbstverständlich. Niemand in „Casa De Los Babys“ bietet sich als Identifikationsfigur an. Sie alle, die Mexikaner und die Amerikanerinnen, haben ihre dunklen Seiten. Ihre Haltungen sind zwar meist verständlich und auch in sich schlüssig, doch das macht weder Nans dreiste Boshaftigkeit noch Señora Muñoz’ Heuchlerei angenehmer. Darum geht es Sayles auch gar nicht. Für ihn versteht es sich von selbst, dass Menschen in bestimmten Situationen einfach unsympathisch auftreten und unmoralisch handeln. Damit setzen sie sich aber nicht zwangsläufig ins Unrecht. Im Gegenteil, gerade in diesen Momenten offenbaren sich die Fehler und Schwächen des Systems im Ganzen, das den Einzelnen zwingt, so zu handeln. Erst wenn sich die Zustände ändern, kann sich auch der Mensch ändern. Diese von einem grundlegenden Optimismus getragene Botschaft lässt sich durchaus kritisch in Frage stellen, aber bedenkenswert ist sie allemal. Ohne einen wie John Sayles wäre das Kino auf jeden Fall deutlich ärmer.