Seit Hannibal Lecter weiß der Kinogänger den Geschmack einer Leber zu gutem Rotwein zu würdigen. Durch Jonathan Demmes furiosen "The silence of the lambs" von 1991 und insbesondere die Darstellung des ebenso hochgebildeten wie gewählt speisenden Anthropophagen durch den inzwischen geadelten Anthony Hopkins erlebte die Figur des Serienkillers ihre Weihe vom Slasher-Genre zum großformatigen Mainstream. Die psychopathischen Schlächter, die seit John Carpenters "Halloween" durchweg nur im Horrorkino unterwegs gewesen waren, und das nicht selten wie im Falle Michael Meyers, Jason Vorhees oder Freddy Krueger gleich im Seriendutzend billiger, erfuhren durch Hannibal Lecter auf einmal den Wechsel in die Champions-League des Filmbiz. Das allerdings auch mit gutem Grund: "The silence of the lambs", basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Thomas Harris, war psychologisch um ein Vielfaches raffinierter, ausgefeilter und komplexer aufgebaut als die Legion billig-blutiger Slasher aus den Jahrzehnt zuvor. Was Jonathan Demmes Welterfolg über den grauen Sumpf der gängigen Serienkiller-Sagen hob, war die als Subplot um die Jagd nach dem Killer Jame Gumb konstruierte, hochgradig suspensegeladene, sich in subtiler Panzerglas-Distanz entfaltende Beziehung zwischen der sophistisch-sadistischen Intelligenz-Bestie Lecter und der von Kindheits-Traumata geplagten FBI-Agentin Starling, damals von Jodie Foster ebenso wundervoll verletzlich wie entschlossen verkörpert.
Mit dem Erfolg von "The silence of the lambs" begann 1991 ein Jahrzehnt, in dem die psychopathischen Massenmörder zu immer schillernderen Kunstfiguren stilisiert wurden. Filme wie "Seven", "Copykill", "Natural Born Killers" oder "The Cell" deuteten den Serienkiller zum Aktionskünstler um, der seine Morde als Popkultur-Happenings inszeniert. "Hannibal" trug dann zehn Jahre nach dem "Schweigen" den Übervater des modernen Großkommerz-Psychopathentums zu Grabe: Ridley Scotts bleiern-verbissenerer Versuch einer barocken Blutorgie um den distinguierten Human-Gourmet und seine Leib-und-Magen-Freundin Clarice Starling zertrümmerte minutenweise die Magie und den Mythos des Demme-Films.
Doch auch nach solch großformatigem Scheitern wollte man den Kannibalen nicht ruhen lassen: Back to the roots, mögen die Verantwortlichen des erfolgreichen Franchise-Unternehmens als Parole ausgegeben haben, als sie beschlossen, Anthony Hopkins ein drittes Mal in der Rolle des konsequentesten Fleischessers seit BSE auftreten zu lassen. Ausgerechnet Brett Ratner, einen Regisseur, der sich bislang nur im Komödienfach einen Namen machte, betraute man mit einer Neuverfilmung von "Red Dragon", Thomas Harris erstem Roman seiner Hannibal-Lecter-Trilogie. Denn fünf Jahre vor "Silence" war Hannibal Lecter schon einmal auf der Leinwand aktiv. In der ersten "Red Dragon"-Verfilmung „Manhunter", der in Deutschland zunächst nur unter dem Titel „Blutmond" in die Kinos kam, hatte der Brite Brian Cox dem monströsen Genie gekonnt diabolisches Gesicht verliehen und damit, wenngleich auch völlig anders als später der elegant und voller britischem Understatement auftretende Hopkins, eine mindestens ebenbürtige Darstellung abgeliefert. "Manhunter" war ein Kind seiner Zeit: "Miami Vice"-Regisseur Michael Mann hatte den Film in eine für die 80er Jahre typische eisige, sterile und neonfarbene Optik getaucht, ganz im Gegensatz zum düster-gotischen Flair des Demme-Films von 1991.
Regisseur Brett Ratner und Produzent Dino de Laurentiis versuchten nun mit der Neuverfilmung des "Drachen", das Unmögliche möglich zu machen, und die Qualitäten beider Filme zu vereinen. So wurden für das Drehbuch "Lämmer"-Autor Ted Tally und als Director of Photography Dante Spinotti, Kameramann des Originals von 1986, verpflichtet. Als Cast stand Ratner neben Anthony Hopkins eine Riege hochklassiger Charaktermimen zur Verfügung. Das Ergebnis fällt erwartungsgemäß zwiespältig, aber bei weitem nicht so verheerend wie bei Ridley Scotts "Hannibal" aus. Ohnehin war davon auszugehen, dass "Red Dragon" keinem der beiden Vorbilder ebenbürtig sein würde, doch immerhin ist Ratner mit dem Veteranen-Trio Tally, Spinotti und Hopkins ein recht ansehnlich gefilmter, stringent erzählter und ausnehmend gut gespielter Thriller gelungen, der gar nicht den Anspruch erhebt, den Horror neu zu erfinden, sondern sich die meiste Zeit als große Verbeugung vor Jonathan Demme definiert.
Angenehm unauffällig entledigte man sich der Aufgabe, dem Begehr des Publikums nach "more Lecter" gegenüber "Manhunter" Rechnung zu tragen. Aus den gerade einmal zehn Minuten Leinwandpräsenz Hannibal Lecters in Michael Manns Original machte Ted Tally einen tragenden, wenngleich auch nicht derart zentripetal im Mittelpunkt stehenden Part wie in "Silence". Denn obwohl die Grundkonstellation beider Romane beinahe identisch ist - FBI-Ermittler bedient sich bei der Jagd nach einem sadistischen Serienkiller der Hilfe des inhaftierten Maniacs - so ist die Funktion der Figur Lecter doch völlig unterschiedlich angelegt, sowohl in seiner Beziehung zu den Fahndern als auch zu den jeweils gejagten Mördern.
Mit dem Prolog des Films, der gänzlich vom Original abweicht, schlägt Brett Ratners Film zugleich den Bogen zum jüngsten Vorgänger "Hannibal". Die Schilderung der im Jahre 1981 angesiedelten Verhaftung Hannibal Lecters durch FBI-Ermittler Will Graham, die im Roman nur in einer sehr kurzen Rückblende und in Michael Manns Original nur in ein paar Dialogzeilen anklingt, beginnt dort, wo Ridley Scotts Film endete: Bei einem gediegenen Gastmahl, zu der der kunstbeflissene Psychiater einige kultivierte Herrschaften nach einem Upper-Class-Sinfoniekonzert eingeladen hat und bei dem mit einer ganz besonderen musikalischen Note gespeist wird.
Während Optik und Atmosphäre von "Red Dragon", dessen Handlung genau wie der Originalfilm fünf Jahre vor “The silence of the lambs” spielt, ganz im gotisch-düsteren Stil Jonathan Demmes gehalten sind, rekapituliert das Skript exakt mehrere Szenen aus „Manhunter". So ist zum Beispiel das Foto einer der ermordeten Familien, welches Will Graham von seinem Vorgesetzten Jack Crawford gezeigt bekommt, mit dem Original von 1986 identisch. Genauso zitiert Brett Ratner beim Betreten Will Grahams eines Hauses, in dem eine der Familien ermordet wurde, das Verfolgen des Lichtkegels der Taschenlampe durch die Kamera.
Erwartungsgemäß schwer fällt es den Darstellern, sich der Zerreißprobe des Vergleichs mit den beiden inhaltlich so ähnlichen, aber in ihrer handwerklichen Umsetzung so völlig gegensätzlichen Vorbildern zu stellen. Selbst Anthony Hopkins belässt es nicht bei einer reinen Wiederholung seiner süffisant eleganten Hannibal- Verkörperung aus den letzten beiden Filmen, sondern imitiert stellenweise den unterkühlten und zugleich exaltierten Sprachstil seines Vorgängers Brian Cox. Ralph Fiennes hingegen liefert eine sehr intensive, subtile und eindringliche Darstellung des schizophrenen Mörders Francis Dolarhyde. Seine Interpretation der Figur, die dem Bösen eine erklärende Biographie und dem Zuschauer analog zu Hitchcocks "Psycho" einen tiefen Einblick in die derangierte Psyche des Mörders gewährt, kontrastiert die steinerne, monolithische Darstellung des Monsters anno 1986 durch Tom Noonan. Brett Ratners Film reicht insofern bereits über das genreübliche Niveau hinaus, da es ihm größtenteils mit Erfolg gelingt, Nervenkitzel und Entsetzen mit einer sorgfältigen Charakterstudie zu verschränken.
Charakterkopf Harvey Keitel steht als Will Grahams Chef Jack Crawford in der Tradition des burschikosen Dennis Farina, beide im konträren Gegensatz zur eiskalt-professionellen Attitüde Scott Glenns. Anthony Heald hat als Dr. Chilton wie in "Silence" die Lacher auf seiner Seite, während Frankie Faison als Pfleger Barney neben Hopkins der einzige Darsteller ist, der in allen drei Hannibal-Filmen der jüngeren Generation auftritt. Emily Watson bildet in der Rolle der blinden Reba McClane die großartigste Überraschung des Films. Die bitterste Enttäuschung des Remakes ist eindeutig Edward Norton. Strahlte der grüblerisch-verschlossene William L. Petersen als Profiler mit der speziellen eidetischen Begabung, sich genauestens in die deformierte Psyche seines geisteskranken Gegners hineinzuversetzen, eine beinahe gespenstische Aura des Lebensfremden und des Bedrohlichen aus, so bleibt genau diese markante Befähigung, die das zentrale Moment im Originalfilm Michael Manns darstellte, bei Edward Norton fast völlig außen vor. Der farblose, bleiche, trauergesichtige Norton, die Idealbesetzung des Narrators aus Finchers "Fight Club", ist viel zu sehr Gutmensch, Familienvater, Opfer und gequälte Kreatur, um der dämonischen Ausstrahlung seines Gegenspielers Hannibal Lecter einen auch nur annähernd adäquaten Widerpart entgegenzusetzen. Petersen war die Inkarnation des unerbittlichen Fahnders und zugleich das Spiegelbild seiner Gegner, ein lauerndes Raubtier unter einer undurchdringlichen Oberfläche, ein Vulkan, der im Angesicht seines Gegenspielers jederzeit ausbrechen konnte. Insbesondere der furiose Dialog zwischen William L. Petersen und Brian Cox im Baltimore State Hospital, bei der die Gitterstäbe der Zelle in allen Kameraperspektiven stets an der gleichen Position erschienen, illustrierte die furchterregende Geistesverwandtschaft beider Figuren.
Bei Edward Norton ist nichts davon zu spüren. Ein Szenenvergleich macht diesen Kontrast überdeutlich: Als Will Graham von dem sensationsgierigen Reporter Freddy Lounds bedrängt wird, schüttelt er den aufdringlichen Schreiberling im 2002er Remake nur ein wenig am Kragen. Im Original von 1986 schleuderte Petersen den verhassten Journalisten mit voller Wucht in eine Windschutzscheibe. Das Remake setzt dem Fehlen eines Darstellers vom Charisma William L. Petersens das sehr konzentrierte Spiel seines Darsteller-Ensembles und die düstere, ganz an "Silence" angelehnte Bild- und Farbgebung entgegen. Insbesondere im stark an der literarischen Vorlage orientierten Finale kann Brett Ratners Film Boden gutmachen: Endete Michael Manns Film in einem sehr verworrenen, unentschlossen wirkenden und vom Roman völlig abweichenden Showdown (auf Grund der Tatsache, dass der Regisseur ein noch viel erschreckenderes Ende plante, aber bei den Produzenten nicht durchsetzen konnte), so ist "Red Dragon" da wesentlich bodenständiger und konservativer und inszeniert seine blutige Katharsis überwiegend romangetreu und wiederum ganz im Stil von "Silence". Anschließend übertreiben es Ratner und Tally jedoch mit einem winzig kleinen, ironischen Epilog, der dem Hannibal-kundigen Zuschauer das Nahen der Handlung von "Silence of the lambs" ankündigt. Mit einer derart kultischen Glorifizierung des Demme-Werks beraubt sich Brett Ratners Remake schlussendlich des letzten Rests an Eigenständigkeit.