Wir wissen es seit unserer Kindheit: Verbotene Türen, Päckchen oder Pakete darf man nicht öffnen. Wenn es auf die Bescherung zuging, dann war das Wohnzimmer tabu. Bereits gekaufte (und zumeist sorgsam versteckte) Geschenke durften vor dem Weihnachtsabend oder dem Geburtstag nicht einmal angeguckt werden (nein, nein!), und wehe, eine Tür des Adventskalenders wurde auch nur einen Tag früher als erlaubt gelupft. Das gibt nur Ärger, bläuten uns unsere Eltern ein, und wir glaubten es und richteten unser ganzes späteres Leben danach aus. Mit der Zeit mutierte das von den Eltern aufoktroyierte Regelwerk mittels der von der Psychoanalyse eruierten Funktionalität des Über-Ichs zu normativen Ge- und Verboten der eigenen persönlichen Legislative, und so klopfen wir uns heute selbstzufrieden auf die Schulter, wenn wir wieder einmal der Versuchung widerstanden haben, ein Geburtstagspäckchen vorzeitig zu enthüllen oder eine nicht jugendfreie Webseite aufzurufen.
Doch wehe, wir verstoßen auch nur einmal gegen das heilige, selbst auferlegte Tafelgesetz. Schon die Frau des Ritters Blaubart durfte schmerzlich erfahren, was passiert, wenn man auch nur ein einziges Mal einen Blick hinter die Türe wagt, deren Öffnung der Herr Gemahl doch so ausdrücklich untersagt hat. Literatur und Filmgeschichte sind voll von solchen Beispielen, in denen ein kleines, scheinbar harmloses Abweichen von der Verhaltensnorm eine unabsehbare Kaskade von Folgen nach sich zieht, sowohl positiver wie auch negativer Art. Als Jeff Goldblum 1985 in John Landis’ „Into the night” einmal etwas früher von der Arbeit nach Hause kam, stolperte er in das bizarrste Abenteuer seines Lebens und rettete nebenbei der bezaubernden Michelle Pfeiffer das Leben. Griffin Dunne hätte es sich anno 1985 in Martin Scorseses „After Hours“ sicher zweimal überlegt, ob er Rosanna Arquette ansprechen sollte, hätte er gewusst, was ihm bevorstand. Und Jean Reno erlebte als Profikiller in Luc Bessons Meisterwerk „Léon - Der Profi" dadurch, dass er entgegen allen gefassten Grundsätzen einer 12-Jährigen gegen die Mörder ihrer Familie hilft, seine Verwandlung vom Monster zum Menschen.
Dieses „After Hours“-Motiv ist auch der Aufhänger für die (zugegebenermaßen spindeldürre) Story in „The Transporter”, einem Werk, das sich stellenweise ein bisschen wie die Kirmes-Variante des Besson-Klassikers „Léon - Der Profi" aufführt und bei dem dessen Regisseur als Produzent und Drehbuchautor auch die Hände im Spiel hatte. Der Transporteur, das ist der Amerikaner Frank Martin: Ein Perfektionist reinsten Wassers, ehemaliger Angehöriger einer militärischen Spezialeinheit, der sich inzwischen seinen nicht ganz unluxuriösen Lebensunterhalt in Frankreich als Auftragsfahrer für die Unterwelt von Marseille verdient. Als Chauffeur und Transportfahrer von Waren und Passagieren der ganz besonders sensiblen Art funktioniert der Transporteur wie eine programmierte CNC-Maschine: Eiskalt, unbeirrbar, kompromisslos, entschlossen und minutiös präzise wie ein Uhrwerk. Drei kategorische Grundregel garantieren seinen Geschäftserfolg: Erstens: Ändere nie einen Deal, zweitens: Frag nie nach Namen und drittens und am wichtigsten: Öffne nie die das Paket. Für den Transporteur heißt das: Mach Deinen Job, kassier das vereinbarte Honorar (und auch keinen Franc mehr), und halt Dich ansonsten aus allem raus, denn nur dann hast Du ein ruhiges Leben.
Konsequent bis zur Gnadenlosigkeit vollstreckt er seine persönliche lex portationis: Sitzen nach einem Überfall auf einmal mehr als die vereinbarte Zahl von besonders eiligen Fahrgästen im Fond seiner für Fluchtfahrten optimierten Nobelkarosse, so dreht er den Zündschlüssel nicht eher, bis sich die Kundschaft mittels Kopfschusses um einen Passagier reduziert hat – seine Treibstoffkalkulation würde sonst nicht aufgehen. Doch nulla regula sine exceptione: Als der Transporteur eines Tages eine besonders großformatige Tasche in eine malerisch gelegene Villa bringen soll, verlässt ihn zunächst die Luft eines Reifens und anschließend das selbstauferlegte Taschen-Zölibat: In dem zu überbringenden Behältnis, das er wider besseren Wissens und Gewissens öffnet, trifft er eine höchst bezaubernde und quicklebendige, aber gefesselte und geknebelte Asiatin an, mit der die Auftraggeber seiner Fahrt offenkundig äußerst unschöne Dinge vorhatten.
Und damit nimmt das Schlamassel seinen Lauf. Fortan hat der Transporteur, der doch eigentlich nichts anderes will, als in seiner noblen Behausung mit Mittelmeerblick den Wagen zu waschen und den Feierabend zu genießen, nicht nur die überaus anhängliche Asiatin am Hacken, sondern auch eine Bande ultrabrutaler Menschenschmuggler im Kreuz inklusiver rotchinesischer Triaden sowie eines nervenden und exakt jedem Uraltklischee entsprechend immer im unpassendsten Moment aufkreuzenden französischen Kommissars. Der Rest ist Action: „The Transporter” laviert inhaltlich noch unterhalb des Niveaus eines Fortsetzungsromans in einer handelsüblichen bundesdeutschen Fernsehzeitschrift, serviert optisch aber adrenalingetränkte Action im Hochglanzformat. Was in der ersten halben Stunde mit einer irrwitzigen Verfolgungsjagd als Hochgeschwindigkeitskrimi mit frankophonem Einschlag im Stil von Bessons „Taxi” oder Gérard Pirès’ „Riders” beginnt, erfährt in dem Moment, als die Schurkenbuben dem Transporteur seinen geliebten fahrbaren Untersatz unter dem Allerwertesten wegsprengen, den abrupten Stilwechsel zum typischen fernöstlichen Martial-Arts-Film unter westlicher Maskerade: Choreographiert von Kampfkunst-Koryphäe Corey Yuen mutiert der seines Autos verlustig gewordene Transporteur zum Kung-Fu-Berserker, um mit den bösen Buben gleich im Zwanzigerpack billiger aufzuräumen. Auch der Oberschurke, ein ebenso gelackter wie gelockter Lebemann, im Hauptberuf Playboy mit Swimmung-Pool, im Nebenjob Menschenschmuggler, stellt sich uns – so will es das Gesetz des fernöstlichen Action-Kinos – als Kampfkunstmeister vor und kann erst in einer aufwendigen – und nebenbei bei „Mad Max 2” abgekupferten – Materialschlacht physisch zur Strecke gebracht werden.
In der Story selbst bleiben dabei Plot-Löcher von der Größe ganzer Flugzeugträger klaffen – allein die Frage nach der Ausgangssituation, warum überhaupt besagte Asiatin von einem Auftragsfahrer von Punkt A nach Punkt B gefahren werden soll und nicht von ihren Feinden gleich an Ort und Stelle unschädlich gemacht wird harrt bis zum Abspann vergeblich einer Beantwortung. Dabei frönt der Film einem dreisten Machotum, wie es derart ungeschminkt geradezu eine Frechheit ist: Nicht etwa, weil ihm ein geliebter Mensch genommen worden ist, erwacht der Transporteur aus seiner Lethargie, um wie der Vulkan Stromboli zu explodieren – sein explodiertes Auto ist der Grund. Dessen Zerstörung ist für den Transporteur der casus belli, der überschrittene Rubicon, der point of no return und die entscheidende Verletzung des „circle of protection“, wie der amerikanische Psychiater und Verhaltensforscher Kinzel diese unsichtbare, imaginäre Maginotlinie einmal beschrieb.
Hauptdarsteller Jason Statham, früher Weltklasse-Taucher, und bislang darstellerisch außer in Guy Ritchies „Snatch” und „Bube Dame König Gras” nicht weiter aufgefallen, überrascht mit einer markanten physischen Performance, bei der er dem stoischen, unrührbaren Charakter des Transporteurs nicht nur beeindruckend athletisches Profil verleiht, sondern mit einigen zynischen Onelinern auch mehr humorige Facetten abzugewinnen weiß als dies ein Martial-Arts-Nullmime vom Schlage eines Jean-Claude Van Damme (mit dem der Film vor zehn Jahren unter Garantie besetzt worden wäre!) jemals vermocht hätte. Die übrigen Darsteller, allen voran Lockenhaupt Matt Schulze, entwickeln bestenfalls B-Movie-Format.
„The Transporter” enthält bei näherem Hinsehen viele Elemente früherer Besson-Streifen: In der Hauptrolle ein stoischer Einzelgänger, der es mit einer Hundertschaft von Gegnern aufnimmt, rasante Action-Sequenzen vor malerischer südfranzösischer Kulisse, Verfolgungsjagden durch das chaotische Verkehrsgewühl einer französischen Altstadt und – wie eine Reminiszenz an lange zurückliegende „Le grand bleu“–Zeiten – mehrere abrupte Wechsel aus lärmendem Kampfgetümmel zu kontemplativ lyrischen Unterwasserszenen in schwelgerischem Blau. Im Einzelnen betrachtet mögen diese Versatzstücke immer noch eine gewisse Faszination ausüben und dem insgesamt rasanten und unterhaltsamen, aber inhaltlich weit unter Nullniveau trudelnden Action-Vehikel durchaus etwas Würze verleihen, für den Regisseur von „Léon - Der Profi", „Nikita“ und „Subway“ bedeuten sie jedoch den künstlerischen Räumungsverkauf.