Der berühmteste Schlafwandler der Filmgeschichte ist noch immer – und wird es wohl auch für immer bleiben – der mordende Somnambule aus Robert Wienes expressionistischen Stummfilmklassiker Das Cabinet des Dr. Caligari. Doch es war nicht in erster Linie die Geschichte von dem wahnsinnigen Wissenschaftler Caligari und seinem Mordsklaven, die den Film zu einem solchen Meisterwerk und wohl auch zu einem der fünf bedeutendsten deutschen Filme überhaupt werden ließen, sondern vielmehr das unglaubliche Dekor, das wohl kaum ein Kinobesucher jemals wieder aus seinem Kopf bekommen wird. Genau andersherum nähert sich der schwedische Regisseur Johannes Runeborg mit seinem Langfilmdebüt „Sleepwalker“ diesem Thema. Zwar nimmt in diesem Thriller auch der Somnambulismus der Hauptfigur einen wichtigen Platz ein, aber statt sich diesem mit einer phantasievollen Inszenierung zu nähern, dreht sich hier vielmehr alles beinahe ausschließlich um den twistreichen Plot. So bietet „Sleepwalker“ durchaus 91 spannende und gut unterhaltende Minuten, ist aber aufgrund des „Tatort“-ähnlichen Inszenierungsstils auch schnell wieder vergessen.
Als der erfolgreiche Architekt Ulrik (Ralph Carlsson) eines Morgens erwacht, ist sein Ehebett blutverschmiert und seine Frau Monika (Ewa Carlsson) und die beiden Kinder sind spurlos verschwunden. Während die Polizei in Person des rauen Inspektors Levin (Anders Palm) zunächst einen Einbrecher verdächtigt, den Rest der Familie entführt zu haben, findet Ulrik immer mehr Hinweise dafür, dass er selbst in der fraglichen Nacht noch unterwegs war – schlammverschmierte Stiefel und die Kilometeranzeige seines Autos sprechen eine mehr als deutliche Sprache. Da er sich aber an nichts mehr erinnern kann, erscheint Schlafwandeln als die einzige sinnvolle Lösung für dieses Problem – und wirklich hat Ulrik am Abend zuvor seine Schlaftabletten mit einem Glas Rotwein heruntergespült, eine ungesunde Mischung, die Schlafwandeln als durchaus mögliche Nebenwirkung aufweist. Um sich selbst auf die Spur zu kommen, bindet sich Ulrik in der kommenden Nach eine Digitalkamera mit Nachtsichtfunktion um. Als er sich am nächsten Morgen die Bänder ansieht, erlebt er eine böse Überraschung…
Auch wenn man von den zahlreichen und teilweise arg angestrengt zusammenkonstruierten Storytwists irgendwann schon ein wenig angenervt ist, muss man „Sleepwalker“ doch zugestehen, dass er auf diese Weise zumindest die Spannung die gesamte Laufzeit hindurch überraschend ausdauernd hochhält. Dabei trifft er eine gute Mischung aus der typischen „Who´s Done It?“-Dramaturgie und direkten Spannungselementen wie zum Beispiel die schon beinahe Slasher-ähnliche Einlage im Zug. Nur die endgültige Auflösung selbst hat man in dieser Form nicht nur schon hundert Mal gesehen, sondern ist gelinde ausgedrückt auch noch ziemlich feige. Auch wenn mit der allerletzten Einstellung wieder ein Schritt in die richtige (düstere!) Richtung getan wird, verharmlost die Auflösung nachträglich den ansonsten so angenehm radikalen Umgang mit der Identifikationsfigur Ulrik – ein gänzlich unnötiger Rückzieher, der nicht nur komplett überflüssig, sondern im Gegenteil sogar absolut kontraproduktiv daherkommt.
Was „Sleepwalker“ aber dennoch über das durchschnittliche Kriminiveau hinaushebt, ist die ungewöhnliche Wahl der Erzählperspektiven. Anstatt die gesamten Ermittlungen wie üblich aus der Sicht der Polizei zu erzählen, übernimmt in „Sleepwalker“ der „Täter“ – indem Ulrik Untersuchungen über sein schlafwandlerisches Ich anstellt – selbst einen großen Teil dieser Arbeit. So kann Regisseur Runeborg ständig zwischen diesen beiden Perspektiven hin und her springen, was nicht nur eine äußerst abwechslungsreiche Dramaturgie hervorbringt, sondern ihm auch eine Menge „Löcher“ schafft, die er geschickt für das Legen falscher Fährten oder das Spiel mit den Gedanken des Zuschauers auszunutzen versteht. Dabei ist die Entwicklung der Figur Ulriks sowieso insgesamt sehr gelungen – dem groß aufspielenden Ralph Carlsson nimmt man stets sowohl das sympathische Opfer als auch den eifersüchtigen Serienmörder ab. Etwas anders sieht es mit Inspektor Levin aus – zwar gibt Anders Palm den raubärtigen Exzentriker mit dem für nordeuropäische Ermittler so typischen rüden Charme, kann der Rolle aber – gerade im Vergleich mit der ähnlich angelegten Figur des Kurz Wallander aus den Romanen von Henning Mankell – kaum neue interessante Nuancen abgewinnen.
Auf der inszenatorischen Ebene ist „Sleepwalker“ ein zweischneidiges Schwert. Vor allem die Egoperspektive, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn sich Ulrik eine Digitalkamera auf die Schulter schnallt, um seiner Schlafwandlerpersönlichkeit auf die Schliche zu kommen, sorgt – zumindest wenn es einem gelingt, über den nervigen Homevideolook hinwegzusehen – für eine ganze Menge auch filmisch interessante und vor allem hochspannende Momente. Die „normalen“ Szenen hingegen filmt Runeborg lediglich recht bieder ab, so dass sich diese inszenatorisch nur selten über das durchschnittliche „Tatort“-Niveau erheben. Insgesamt ist „Sleepwalker“ ein spannender und Dank der ungewöhnlichen Perspektivwechsel auch ausgesprochen interessanter Thriller, bei dem die eine oder andere überkonstruierte Wendung, das zu ängstliche Ende und die nicht durchgehend überzeugende Inszenierung jedoch einen richtig großen Wurf verhindern.