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    Talk Radio
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Talk Radio
    Von Ulrich Behrens

    Am 18. Juni 1984 wurde der Moderator eines Senders in Denver, Alan Berg, ermordet. Berg erzählte denjenigen, die in seiner Sendung anriefen, genau das, was er von ihnen dachte, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen oder seine Worte sensibel zu verpacken. Einige, denen das nicht gefallen hatte, töteten ihn. Berg meinte auf die Frage, warum er seinen Anrufern im Radio so hart und unbarmherzig gegenübertrete: Sie wollten das doch genauso, warum würden sie sonst anrufen und mir das alles erzählen, wenn sie dann meine Wahrheit über sie nicht hören wollten. Stephen Singular dokumentierte diesen Fall in seinem Buch „Talked to Death: The Life and Murder of Alan Berg“. Oliver Stone nahm die Geschichte zur Grundlage seines Films.

    Der Sender KGAB in Houston strahlt jede Nacht die Sendung „Night Talk“ aus. Moderator ist Barry Champlain (Eric Bogosian), der nicht nur über das, was ihm anrufende Hörer erzählen, offen sagt, was er denkt. In „Night Talk“ gibt es auch keine verwöhnten Hörer, die nett behandelt werden, sondern nur solche, die von Champlain gnadenlos in Grund und Boden gestampft werden. Auch diejenigen, die antisemitische oder rassistische Beschimpfungen, Obszönitäten oder ähnliches äußern, nimmt sich Champlain skrupellos zur Brust. Er scheint keine Grenzen zu kennen. Die Sendung ist für KGAB ein Renner. Unterstützt von seiner Produzentin Laura (Leslie Hope) und Studioleiter Dan (Alec Baldwin) hat Champlain freie Hand. Dietz von der Unternehmensführung (John Pankow) will die Sendung auf ganz Texas ausdehnen und fordert deshalb, dass sich Champlain in seiner Vehemenz gegenüber den anrufenden Hörern etwas zurücknimmt. Doch der lässt keine Kompromisse zu: Entweder er kann so weiter machen wie bisher oder es gibt keine Ausdehnung auf den Bundesstaat. Die meisten Hörer rufen gerade deshalb immer wieder an, wollen, dass Champlain ihnen die Meinung sagt, sie unterbricht usw.

    Allerdings gibt es auch einige andere, die Drohbriefe schreiben, Morddrohungen aussprechen – und schließlich bekommt Champlain ein Päckchen, das nach Aussage eines Anrufers, der offenbar der rechten Szene angehört, eine Bombe enthalten soll. In aller Ruhe packt Champlain das Päckchen aus. Während alle anderen befürchten, es könne explodieren, findet Champlain eine in eine Hakenkreuzfahne eingewickelte tote Ratte. Als ihn ein anderer Anrufer beschimpft und bedroht, giftet ihn Champlain an und fordert ihn auf, doch ins Studio zu kommen. Er scheint kein Risiko zu scheuen, um seine Art von „Night Talk“ aufrechtzuerhalten...

    Mehr zum Inhalt des Films zu schreiben, wäre zu viel.

    Oliver Stone ist als Regisseur bekannt für ganz offen vorgetragene Verschwörungstheorien („Nixon“, 1995; „J.F.K. – Tatort Dallas“, 1991) sowie für eine besondere Art von plakativer Darstellung gesellschaftlicher Ereignisse, Probleme und Konflikte. Stone ist auf eine spezifische Weise: direkt und dabei ehrlich, was seine Absichten betrifft, die er mit seinen Filmen verfolgt. Für „Talk Radio“ gilt nichts anderes. Auch wenn sich die Filmfigur des Barry Champlain von der realen Person des ermordeten Alan Berg in Biografie und Charakter unterscheidet, hält Stone mit der zentralen Figur des Films seinen Finger in etliche offene Wunden, die am Fall Berg zutage getreten waren.

    Was geschieht hier eigentlich? Champlain wird als ein Mensch gezeigt, der unablässig redet, zu keinerlei Kompromissen bereit ist, lebensunlustig wirkt, alles andere als Ruhe ausstrahlt, selbstzerstörerische, ja suizidale Tendenzen an den Tag legt (etwa wenn er das Päckchen direkt vor dem Mikrophon auspackt). Er provoziert ohne Grenze in einer Mischung aus Sarkasmus und Aggressivität. Sein eigenes Leben scheint ihm egal. Wer in „Night Talk“ anruft oder der Sendung zuhört, riskiert Entblößung in extenso. Vor Champlain stehen alle „nackt“ da; niemand, der sich ihm aussetzt, kann entkommen.

    Champlain ist die Nahtstelle zwischen äußerem Erscheinungsbild und dahinter liegenden menschlichen Schwächen aller Art, die Schaltstelle zwischen Schein und Wirklichkeit, die Schnittstelle zur gnadenlosen Offenbarung. Wenn er redet, wenn seine Sendung beginnt, gibt es keinen Halt. Doch was sich in dieser Zeit tatsächlich abspielt, geht weit darüber hinaus. Wir befinden uns im Radio. Und Stones Film ist insofern auch eine gnadenlose Kritik an Medien, allerdings nicht in einer vulgären und bei so manchem sehr beliebten Form von Medienkritik, in der einseitig „den Medien“ die Verantwortung für dies und das gegeben wird. Champlain hätte keine Chance, wenn „da draußen“ nicht ein starkes Bedürfnis erstens nach Prostitution, nach Zurschaustellung, zweitens nach Voyeurismus und drittens eben auch nach Verdunkeln, Verstecken, Verheimlichen, Verbergen existieren würde. In diesem Sinne sind die Medien tatsächlich „nur“ Mittler dieser Bedürfnisse, aber eben organisierte und organisierende Mittler, die in dieser Funktion nicht gerade wenig Geld verdienen.

    Die Medien sind noch mehr, in gewisser Weise sogar etwas anderes: Der Film spielt zu weiten Teilen im Studio, in beengten Räumen, in einem beengten Raum. Dieser Raum ist weniger eine geographische, physische oder bauliche Angelegenheit, viel mehr der innere psychische Raum eines jeden Anrufers oder Zuhörers. Was sich in der Sendung abspielt, spielt sich im Kopf der Beteiligten ab, in ihrer Psyche, deren Möglichkeiten bis zum Äußersten ausgelotet, ausgereizt werden. Die Frage nach Freiwilligkeit oder Zwang scheint sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr zu stellen. Die einzige Frage, die noch offen bleibt, scheint die: Wie lange kann man das aushalten, ohne zu platzen, zu zerbersten, zu zerspringen, zusammenzubrechen? Klaustrophobie breitet sich aus.

    Der Mord scheint – nicht nur für die, die Champlain töten wollen, sondern für die gesamte Situation – der einzig befreiende Akt, um der Angst vor dem Zerbersten zu entgehen. Danach wäre es vorbei, alles entspannt sich, fließt wieder, es kehrt Ruhe ein – als wenn auf einen schwülen, unerträglichen Tag ein Gewitter folgt, das wohltuende Abkühlung bringt. Aber auch das ist nur Schein, ebenso wie die Offenlegung innerster seelischer Konflikte oder die Verdammung rassistischer Meinungen und Meinungsmacher. Der Mord ist nur konsequent in der inneren Logik des offenbarten Systems von Voyeurismus, Zurschaustellung und Verdunklung – drei Methoden, um der Lösung von Konflikten aus dem Weg zu gehen, sich an dem Leid anderer zu ergötzen, weil man sein eigenes Leid verdrängt, oder Konflikte am Kochen zu halten.

    In der Darstellung dieses (medienmäßig vermittelten) Systems ist Oliver Stone in gewisser Weise skrupellos ehrlich. Seine Enthüllung unterscheidet sich von anderen genau durch diese Ehrlichkeit, durch die Verlässlichkeit, mit der er sein Publikum in die Geschichte verwickelt.

    Eric Bogosian spielt nicht nur die zentrale Figur dieses Films; er ragt über alle anderen hinaus. In „Talk Radio“ ist dies wie selten sonst durch die Dramaturgie und die Geschichte vorgegeben. Alle anderen scheinen nur in seinem Sinne zu funktionieren, mediatisiert zu Marionetten eines skrupellosen Systems, das sie sich – in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Anteilen – doch nur selbst auferlegt haben.

    „Talk Radio“ ist ein viel zu wenig beachteter Film aus dem Werk Oliver Stones, der seinen berechtigten in der Ahnengalerie hat. In diesem Film ist es nicht so sehr die Verschwörungstheorie, sondern viel mehr das innere, heimliche, unausgesprochene Übereinkommen zwischen Medienmachern, Hörerschaft und Anrufern, ihre Angelegenheiten auf die beschriebene Art und Weise zu regeln, weil sie es anders nicht können.

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