Der Rocky aus Herne
Von Lutz GranertDominik Galizia ist ein waschechter Selfmade-Filmemacher: Sein Langfilmdebüt „Figaros Wölfe“ (2017) finanzierte er ebenso wie das auf einer gleichnamigen YouTube-Reihe basierende Nachfolgeprojekt „Heikos Welt“ (2021) durch Crowdfunding-Kampagnen – ganz ohne Filmförderung! Während „Figaros Wölfe“ immerhin auf dem Fantasy Filmfest gezeigt wurde, avancierte der in authentisch-abgesifften Eckkneipen gedrehte „Heikos Welt“ zu einem Kiez-Kultfilm – was sicherlich auch am liebenswert-hemdsärmeligen Titel(anti)helden liegt, der sich im beschwipsten Zustand vom kleinkriminellen Hartz-4-Empfänger zum angefeuerten Dart-Champion mausert. Für seinen dritten Spielfilm „Rock ’n‘ Roll Ringo“ hat Galizia nun erstmals Filmförderung kassiert – und trotzdem hat der Film wieder beachtliches Kultpotenzial.
Immerhin setzt „Rock ’n‘ Roll Ringo“ auf ähnliche Zutaten wie „Heikos Welt“, nur ist der beschriebene Mikrokosmos diesmal nicht die Kneipenlandschaft Berlins, sondern das Schausteller-Milieu Nordrhein-Westfalens. Gedreht wurde erneut an Originalschauplätzen, darunter etwa der Düsseldorfer Rheinkirmes oder der Cranger Kirmes. Die blinkenden Lichter aus der schillernden, unwirklichen Welt von Fahrgeschäften und Attraktionen wurden von Kameramann Elias Köhler auf hochauflösendem 35mm-Analogmaterial im Cinemascope-Format eingefangen. Das verschafft der mit einigen Besetzungs-Coups aufwartenden Tragikomödie einen farbintensiven Look – und tröstet über die letzte, allzu konstruierte halbe Stunde hinweg, in welcher der ohnehin etwas dünn geratene Plot endgültig ins Straucheln gerät.
Der trinkselige Ringo Fleisch (Martin Rohde) aus Herne verliert durch eine Unachtsamkeit seinen Job als Gerüstbauer. In der Not heuert er bei der Achterbahn auf der Kirmes in Crange an. Hier wird das Schausteller-Paar Inge (Margarethe Tiesel) und Fränkie (Charly Schultz) für ihren „Fight Club“ auf den von einem eigenen Boot auf der Nordsee träumenden Hünen aufmerksam. Frankie baut Ringo mit hartem Training zum respektablen Preisboxer auf. Als bei einem Kampf etwas schiefläuft und kurz darauf auch noch Ringos taubstumme Tochter Mia (Tuba Seese) zu Besuch kommt, droht sein ohnehin unstetes Leben endgültig aus dem Ruder zu laufen...
In „Heikos Welt“ schüttete sich der titelgebende Protagonist noch diverse „Futschi“ (ein Longdrink mit Weinbrand und Cola) für eine phänomenale Treffsicherheit am Dartboard hinter die Binde. In „Rock ’n‘ Roll Ringo“ verkörpert erneut Martin Rohde die Titelrolle, aber diesmal sind ganz klassisch Bier und Korn angesagt. Seine kantige Malocher-Figur in Jeans-Jacke mit streng nach hinten gegelten Haaren legt er dabei als ebenso wortkarg wie einfältig an. Trotzdem kommt er mit dem Priester Pater Petrus über Seemannsknoten ins Gespräch – und der wird ausgerechnet von Erwin Leder aus der Originalbesetzung von „Das Boot“ verkörpert.
Für sich ein solider Meta-Gag, aber mit der Stilisierung übertreibt es Galizia: Wie in einem Western wird die Szene mit Gegenschüssen auf die Augenpaare der beiden aufgelöst, obwohl die Möglichkeit eines Duells gar nicht im Raume steht. Der Regisseur und Autor hat sich bei „Rock ’n‘ Roll Ringo“ nach eigener Aussage vom Genre des Spaghetti-Western inspirieren lassen, aber so wirkt das Meta-Element allenfalls aufgesetzt und angestrengt komisch. Dasselbe gilt für die gekünstelt gereimten Voiceover-Passagen, mit denen Erwin Leder die Wendungen der Geschichte kommentiert.
Starke, aus dem Leben gegriffene Charaktere sind in „Rock ’n‘ Roll Ringo“ zahlreich: Peter Trabner („Der Pfau“) offenbart als zunächst noch gute Laune verbreitender Pantomime bei einem Kneipenbesuch seine düstere Seite, wenn er sich echauffierend über schlechten Service und ein längst von der Karte gestrichenes Clubsandwich mit Mostrich beschwert. Larissa Sirah Herden („Bad Banks“) wiederum ist als flippige Autoscooter-Schaustellerin, mit der Ringo in die Magie rund um die Buden und Fahrgeschäften eintaucht, bei plumpen Anmachen um keinen schlagfertigen Spruch verlegen. Der größte Coup ist Galizia jedoch mit der Besetzung von Charly Schultz gelungen: Der ehemalige Box-Profi mit heiserer Stimme und rheinländischer Schnauze, der 1979 einen Vorkampf vor Muhammad Ali bestritt und nach seiner aktiven Karriere jahrzehntelang mit seiner Boxbude als Schausteller über die Volksfeste der Republik tourte, spielt sich quasi selbst.
Als mit wabernden Synthie-Klänge unterlegte und gerade bei den zahlreichen Rummel-Szenen in farbintensive Bilder getauchte Kirmes-Milieustudie funktioniert „Rock ’n‘ Roll Ringo“ trotz wenig Plot also hervorragend – zumindest bis Galizia seinen sympathischen Protagonisten in der letzten halben Stunde auf die schiefe Bahn geraten lässt. Es entspinnt sich ein halbgares, allzu konstruiertes und zunehmend düsteres Gangsterfilmszenario, das zwar eine technisch anspruchsvoll gefilmte Auto-Verfolgungsjagd zu bieten hat, aber wie ein Fremdkörper in dem an sich heiteren Film wirkt.
Fazit: Optisch eine Wucht, punktet Dominik Galizia nach „Heikos Welt“ erneut mit authentischem Lokalkolorit und starken, kantigen Charakteren. Während „Rock ’n‘ Roll Ringo“ als Kirmes-Milieustudie auch ohne komplexen Plot funktioniert, wirkt der Gangster-Thriller-Appendix aber allzu aufgesetzt.