Was kommt nach einem bahnbrechenden, Maßstäbe setzenden Meisterwerk? Der Druck ist immens hoch. "Memento"-Regisseur Christopher Nolan geht es wie vielen seiner Kollegen zuvor. Und so versucht er mit dem Alaska-Thriller „Insomnia“ auch gar nicht, an seinen Kultfilm anzuknüpfen, sondern wendet sich etwas konventionelleren Pfaden zu. Doch das, was Nolan aus dem düsteren, atmosphärisch unheimlich dichten Psycho-Duell macht, ist exzellent - aber knapp am Meisterwerk vorbei.
Die Cop-Legende Will Dormer (Al Pacino) und sein Partner Hap Eckhart (Martin Donovan) werden aus Los Angeles zur Lösung eines brutalen Mordfalls in die Einöde Alaskas nach Nightmute beordert, um der übereifrigen, unerfahrenen Polizistin Ellie Burr (Hilary Swank) bei den Ermittlungen zu helfen. Dormer ist innerlich zerrissen. Sein Kumpel plant, mit der Abteilung für Innere Angelegenheiten wegen eines Fehlverhaltens von Dormer einen Deal abzuschließen, der ihm die Haut rettet, aber seinem ehrgeizigen Partner die Karriere kosten wird. Der Trip nach Alaska gewährt nur ein wenig Aufschub. Dem Mörder der 17-jährigen Schülerin kommen die beiden Profis schnell auf die Spur. Sie stellen ihm eine Falle, aber im dichten Nebel kommt es zum Desaster. Aus Versehen erschießt Will seinen Partner Hap, weil er ihn für den fliehenden Täter hält. Aus Angst, seine Karriere zu riskieren, verschweigt er sein Versagen und schiebt den Mord dem Killer in die Schuhe. Doch der kennt die Wahrheit. Der Kriminalautor Walter Finch (Robin Williams) schlägt dem Cop einen Handel vor: Beide schweigen und verraten sich nicht gegenseitig. Ein packendes Katz- und Mausspiel beginnt...
Dass das erst 31-jährige Regie-Talent Nolan zum ersten Mal mit einem Big Budget (50 Millionen Dollar) drehen durfte, war nach seinem Indie-Superhit>"Memento" keine Frage. Dafür erhielt er auch prominente Unterstützung. George Clooney und Spezi Steven Soderbergh agieren als ausführende Produzenten. Diesmal verwirklicht Nolan jedoch keinen eigenen Stoff wie auch bei seinem No-Budget-Erstling „Following“, sondern macht sich an das Remake des gleichnamigen norwegischen Thrillers von Erik Skoldbjaergs mit Stellan Skarsgard („Ronin“, „Good Will Hunting“) in der Hauptrolle. Wer bei „Insomnia - Schlaflos“ einen Whodunit-Thriller klassischer Lesart erwartet, ist im falschen Film. Die Identität des Täters ist schnell bekannt. Das faszinierende an „Insomnia“ ist das fein ausgelotete Psycho-Duell der beiden Protagonisten, das nur sparsam, aber effektiv mit Actioneinlagen gewürzt wird.
Al Pacino brilliert einmal mehr und gibt seinem ausgemergelten, von permanenter Schlaflosigkeit gezeichneten Cop eine hohe Glaubwürdigkeit. Im Gegensatz zu seinen letzten Auftritten in "The Insider", „An jedem verdammten Sonntag“ und „Im Auftrag des Teufels“ legt er seine Rolle deutlich zurückhaltender an, erzielt aber trotzdem seine unwiderstehliche Präsenz. Das Psychospiel ist gut durchdacht und bewusst manipulierend angelegt. Mit zunehmender Dauer wird der gute Cop immer düsterer und zwielichtiger, seine Integrität gerät immer mehr im Frage, dafür kommt zuweilen sogar Sympathie für den potenziellen Killer auf. Oder war es vielleicht doch nur ein Unfall?
Co-Star Robin Williams, der erst nach einer guten Stunde zum ersten Mal auf der Leinwand zu sehen ist, hat endlich die Zeichen der Zeit erkannt und sich wieder ernsten Charakteren zugewandt, nachdem er als Clown vom Dienst mittlerweile ein exorbitantes Nervpotenzial entwickelt hat. Bei dem Totalflopp „Death To Smoochy“ ging der aktuelle Imagewandel zwar noch voll daneben, aber in „Insomnia“ - und im folgenden "One Hour Photo" - glänzt Williams wie in alten Zeiten von „Good Will Hunting“, „Club der toten Dichter“ oder „Zeit des Erwachens“. Er verleiht dem Mörder Menschlichkeit und schürt so manchen Zweifel beim Zuschauer.
Rein handwerklich ist „Insomnia“ vom feinsten. Kameramann Wally Pfister ("Memento") fängt die rau-bizarre Schönheit der weiten Landschaft in kraftvolle, vom „wabernden“ Score unterstützte, dichte Bilder. Dieser Eindruck wird schon in der Eröffnungssequenz spürbar, wenn Pacino und Donovan im Wasserflugzeug über ein stahlblaues Meer aus Eis gleiten. Die Wahrnehmungsstörungen des schlaflosen Dormer (Achtung: Wortspiel), der wegen der in den nördlichen Breiten üblichen sommerlichen Nachthelligkeit kein Auge zu bekommt, werden mit einigen optischen Gimmicks umgesetzt.
Was fehlt „Insomnia“, um als Meisterwerk zu gelten? Oscar-Preisträgerin Hilary Swank („Boys Don’t Cry“) wird nicht genügend gefordert und steht eindeutig im Schatten des famosen Duos Pacino/Williams, obwohl sie das Zeug dazu hätte, mitzuhalten - verschenktes Talent. Zudem geht dem Film/Drehbuch zum Ende ein bisschen der Mut verloren, diesem alles andere als strömlinienförmigen Psycho-Thriller ein würdiges Finale zu geben: zu konventionell, zu sehr Hollywood-like. Wer einmal gesündigt hat, für den gibt es kein Zurück mehr.