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    Caught By The Tides
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Caught By The Tides

    Eine Werkrückschau der ganz besonderen Art

    Von Patrick Fey

    Es ist fast unvermeidlich, dass wir, sind wir erst einmal mit dem Werk eines oder einer Filmschaffenden vertraut, in jedem neuen Film immer auch die vorangegangen erkennen — oder doch zumindest zu erkennen glauben. Eine fast ebenso offensichtliche Konstante — insbesondere des Arthouse-Kinos — liegt darin, dass die respektierten Auteur*innen mit zunehmenden Alter beginnen, ihr künstlerisches Vermächtnis zu befragen. Selten allerdings haben sich diese beiden Aspekte auf solche Weise überschnitten, wie es nun im jüngsten Film des chinesischen Meisterregisseurs Zia Zhangke der Fall ist: „Caught By The Tides“ heißt dieser größtenteils aus Material seiner früheren Arbeiten zusammengeschnittene Film im Englischen, also „von der Strömung erfasst“, was vom originalen Mandarin durchaus abweicht, das sich am ehesten wohl mit „außergewöhnliche Generation“ oder „schwierige Ära“ übersetzen ließe. Wie immer man den Titel aber auch auslegt (Zia Zhangke selbst bevorzugt übrigens „Eine treibende Generation“), womöglich lässt sich erst aus der Pluralität dieser Übersetzungsversuche eine Synthese herausbilden.

    Will man nämlich so weit gehen, den fragmentarischen „Caught By The Tides“ als Erzählung zu verstehen, so ist es gleichermaßen die Geschichte von Qiaoqiao (Zhangkes langjährige Kollaborateurin und Ehefrau Zhao Tao) und der 21 Jahre umspannenden Ära, die Zhangke und Zhao Tao seit ihrer ersten Zusammenarbeit in ihren Kollaborationen bislang kommentieren. Bereits im ersten gemeinsamen Film von 2002, „Unknown Pleasures“, spielte Zhao Tao eine Frau namens Quiaoquao, und auch in „Asche ist reines Weiß“ aus dem Jahr 2018 tritt sie unter diesem Namen in Erscheinung. Beinah erübrigt es sich, darauf hinzuweisen, dass dieser Zeitraum, erst unter der Präsidentschaft von Hu Jintao und seit 2012 von Xi Jinping, mit dem in der Weltgeschichte einmaligen politischen Aufschwung Chinas zusammenfällt. Gerade in einer Periode, da ein nie dagewesener sozio-ökonomischer Wohlstand mit einem neuen, von Propaganda befeuertem Nationalismus verwachsen ist, sind es die Werke Zia Zhangkes, die ein Licht auf die weniger beleuchteten Randerscheinungen einer im Wandel begriffenen chinesischen Gesellschaft werfen.

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    2011 sind Qiaoqiao (Zhao Tao) und Brother Bin (Zhubin Li) noch ein Paar.

    Die Ereignisse in „Caught By The Tides“ setzen im Jahr 2001 in der nordost-chinesischen Minen-Stadt Datong der Shanxi-Provinz ein, die schon in vergangenen Filmen Zhangkes den Schauplatz bildete. Hier sehen wir eine Gruppe von Frauen in einem kargen Raum um einen kleinen Steinofen versammelt. Es ist Frauentag, und es werden mit großer Inbrunst patriotische Hymnen zum Besten gegeben, in denen sich große Wehmut, aber auch romantische Zukunftswünsche ausdrücken. Den gesamten Film durchziehen diese Stücke, die mal selbst gesungen, mal betanzt werden, und denen eine kaum näher zu benennende Sehnsucht innewohnt. Eine Sehnsucht, von der wir vor dem Einsetzen der Stücke nicht wussten, dass sie in uns schlummert, die aber auch nach ihrem Verklingen in uns weiter hallt. Gewissermaßen lässt sich diese folkloristische Schlagermusik als das Strukturelement eines Filmes erkennen, der Filmmaterial aus mehr als zwei Jahrzehnten auf nur bedingt kohärente Weise miteinander in Beziehung setzt.

    In einer der Eingangsszenen etwa, die allesamt im 4:3-Bildformat als digitales Video daherkommen, wehrt sich die junge und unerschrockene Zhao Tao im wahrsten Sinne des Wortes schlagfertig gegen die Belästigungen einer Motorradgang. Später sehen wir sie vor einer Shopping-Mall tanzen. Als sie dann, wie wir im Laufe des Filmes lernen, nach verschiedenen Reisen durch das Land in ihre Heimatstadt zurückkehrt, ist dies urplötzlich gestochen scharf im 21:9-Bildformat eingefangen – und die Hauptdarstellerin ist auch tatsächlich sichtlich gealtert (was ja kein Wunder ist, schließlich wurden die Szenen ja allesamt tatsächlich in den Jahren gedreht, in denen sie auch spielen).

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    Eine Szene aus dem meisterhaften Gangster-Melodrama „Asche ist reines Weiß“, die hier in einen neuen Kontext gesetzt wird.

    Bis zum letzten Abschnitt des Filmes, dem es trotz der narrativen Fragmenthaftigkeit auf beinah magische Weise gelingt, die Fäden zusammenzuführen, verändert sich das Bild fortwährend, bleibt disparat. Bis es allerdings dazu kommt, haben wir Zhao Taos Qiaoqiao über Jahre hinweg begleitet, während derer sie ihre alte Liebe, den sogenannten Brother Bin (Zhubin Li), aufzuspüren sucht. Dieser war einst, ohne Vorwarnung, aus Datong und somit ihrem Leben verschwunden, um jenseits der alten Industriestadt sein Glück zu suchen. Während dieser Odyssee verändert sich nicht nur die Welt der Figuren, sondern vor allem auch die unsere. So sehen wir nicht nur die vielen verlassenen Häuser, die Ruinen, den Verfall der Shanxi-Provinz. Auch der technologische Fortschritt, der sich in Sieben-Meilen-Stiefeln seinen Weg bahnt (in verdichteter Form zu sehen, als die Kamera von einem Röhrenmonitor wegschwenkt und in der Rückbewegung, scheinbar innerhalb derselben Szene, plötzlich einen Flachbildschirm wiederfindet). In Zia Zhangkes „Still Life“, der ihm 2006 den Goldenen Löwen von Venedig einbrachte, wurde symbolisch die zur selben Zeit fertiggestellte Drei-Schluchten-Talsperre aufgegriffen, immerhin das größte Wasserkraftwerk der Erde.

    Hinsichtlich des Filmtitels kommt man fast nicht umhin, diesen Staudamm allegorisch zu lesen. Zhangke porträtiert anhand von Qiaoqiao und Brother Bin eine Generation, die sich treiben lässt oder die getrieben wird, wobei die Menschen mit der Zeit gelernt haben, sich gegen diesen Forttrieb zu wehren. Während all dieser Zeit verbleibt Quiaoquao stumm; sofern es Dialoge gibt, so betreffen sie die Menschen um sie herum. Einzig durch Textnachrichten hören wir während dieser Zeit von ihr, erfahren, wie sie lose mit Brother Bin in Kontakt bleibt. Wo nicht gesprochen wird, zählen die Blicke umso mehr, wobei es immer im Ungewissen bleibt, wen sie durch sie zu überzeugen versucht. In einer der schönsten Szenen des Filmes — und gewissermaßen der vielen Filme innerhalb dieses Filmes — testet Qiaoqiao ihre Gesichtsausdrücke an einem fahrenden Roboter in einer Shopping-Mall, der sie nach ihrem Wohlbefinden befragt. Als er sie mustert und von ihrem Gesicht vor allem eine Traurigkeit abliest, will Qiaoqiao es nicht bei dieser schlichten Diagnose bewenden lassen und zwingt sich immer wieder in das Sichtfeld des Roboters, der sich von ihr abzuwenden versucht.

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    Eine der neuen und schönsten Szenen des Films: die Begegnung von Qiaoqiao und einem Kaufhaus-Roboter.

    Es ist eine Szene, die das Resilienz-Motiv aufgreift, das sich früh im Film ankündigt und das sich bis zum Schluss durchzieht. Es zeigt sich erstmals in der Rockmusik, mit der der Film einsetzt („Nicht einmal Wildfeuer kann alle wilden Gräser versengen, in der Frühlingsbrise sprießen sie zurück“) und daraufhin in der Bergbauregion, in der Menschen auch dann geblieben sind, nachdem die Arbeitsplätze — und mit ihnen viele andere Aspekte lokaler Kultur — längst verschwunden sind. Ein Geschäftsmann lässt dort ein Tanzlokal wieder auferstehen, das einst das kulturelle Zentrum der Bergarbeiter*innen-Familien darstellte. Eintritt wolle er dafür nicht nehmen, es solle ein offener Ort für die Zusammenkunft alle sein.

    Wie in Lou Yes „An Unfinished Film“, der dieses Jahr ebenfalls in Cannes zu sehen ist, verwandelt sich Zhangkes Film gegen Ende zwangsläufig auch in einen Pandemie-Film. Einerseits ertönt aus Straßenlautsprechern, die USA hätten furchtbare Fehler in der Pandemie-Bekämpfung gemacht. Gleichzeitig werden wir auf Bildebene in den Jahren 2022 und 2023 Zeuge davon, wie öffentliche Einrichtungen nur durch QR-Code-Vorzeigen betreten werden können. In regelmäßigen Abständen sprüht das Sicherheitspersonal zudem mit Desinfektionsspray um sich. Diese Szenen sind tatsächlich neu, wobei nicht ganz klar ist, ob sie von einem zwischenzeitlich abgebrochenen unveröffentlichten Projekt stammen oder ob sie speziell für „Caught By The Tides“ gedreht wurden. In der abschließenden Szene sehen wir Qiaoqiao dann, wie sie sich einer vielköpfigen Gruppe von Joggern in neonfarben leuchtenden Anzügen anschließt. Doch just in diesem Moment bricht lauthals ein Schrei aus ihr heraus, der sich vermutlich seit über 20 Jahren in ihr aufgestaut hat. Klar ist: Qiaoqiao wird in dieser Strömung nicht untergehen.

    Fazit: Mit „Caught By The Tides“ gelingt Zia Zhangke eine trotz ihrer Fragmenthaftigkeit unwahrscheinlich hellsichtige Werkrückschau und archivarische Collage, die weniger die Unterschiede denn die motivischen Überschneidungen innerhalb der Zhangke’schen Filmografie betont und im Quasi-Gleichschritt ein kleines und persönliches Panorama von seinem Heimatland zeichnet —insbesondere über jene, die im Zuge der Deindustrialisierung aus dem medialen Zentrum verschwunden sind.

    Wir haben „Caught By The Tides“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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