Sehnsuchtsvolles Fernweh
Von Patrick FeyEs bedarf nicht viel und man geht verloren in einem Film von Miguel Gomes. Insbesondere, wenn der portugiesische Auteur sich selbst nicht nur in seiner Geschichte, sondern in der Menschheitsgeschichte als solcher verliert. So geschehen etwa in „Tabu“, seiner Adaption des gleichnamigen Murnau-Stummfilms, in der die koloniale Vergangenheit Portugals noch immer das gegenwärtige Bewusstsein im heutigen Lissabon prägt. Mit dem Cannes-Wettbewerbstitel „Grand Tour“ reist Gomes noch ein ganzes Stück weiter in die Vergangenheit zurück, in die Jahre 1917/1918, um von der Flucht des niederrangigen Kolonialbeamten Edward Abbot vor seiner Verlobten Molly Singleton einmal quer durch Südostasien zu erzählen. Gespielt werden die beiden von Gonçalo Waddington und Crista Alfaiate, mit denen Gomes bereits bei seiner gefeierten „Arabian Nights“-Trilogie zusammenarbeitete.
Im Frühjahr 2020 reisten Gomes und seine Crew — mit dem Plan, ihren beiden Protagonist*innen zuvorzukommen — selbst durch Südostasien, wobei sie einiges an Material aus der Gegenwart schossen, das sich nun auch im fertigen, vornehmlich fiktionalen Film wiederfindet. Von Myanmar und Singapur über Thailand, Vietnam und die Philippinen waren sie schließlich in Osaka angekommen, wo sie mittels Fähre nach Shanghai übersetzen wollten. Doch die Pandemie machte diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung, sodass dieser letzte Teil der Reise durch China, erst zwei Jahre später und aus der Distanz — durch eine Videoverbindung mit einem örtlichen Filmteam aus dem 3.500 km entfernten Lissabon — umgesetzt werden konnte.
So sehr diese Entstehungsgeschichte ohne festen Drehplan auf ein vor allem exploratives filmisches Unterfangen verweist, so sehr scheint eine andere kreative Entscheidung dieser offenen Abenteuerlust zuwiderzulaufen: Denn den in 16mm-Farbbildern eingefangenen Szenen aus der Gegenwart setzt Gomes Schwarz-weiß-Aufnahmen entgegen, die er bewusst im Studio in Lissabon gedreht hat. Die verschiedenen Grade der Künstlichkeit in der Inszenierung, aber auch der Fiktionalisierung des Gezeigten, sorgen hier für eine Destabilisierung der Bilder. In ihr zeigt sich die Gemachtheit unserer Geschichtsschreibung.
Es ist ein Motiv, das sich in den Schatten- und Puppenspielen aus der außergeschichtlichen Gegenwart spiegelt, die Gomes wiederholt aus der Backstage-Perspektive einstreut. Und es spiegelt sich in dem klein geratenen Riesenrad, das das Jahrmarktspersonal in artistischer Form permanent selbst anstoßen muss, um es am Laufen zu halten. Wie um zu suggerieren, dass der gesellschaftliche Motor, der uns und unsere Geschichte antreibt, allem voran ein menschlicher ist. In der finalen Szene von „Grand Tour“ führt Gomes diese Spannung zu ihrem konsequenten Endpunkt (dem selbst wieder ein Beginn innewohnt). Es ist ein Moment, der das Publikum laut aufschnappen lässt, in der Retrospektive aber fast unausweichlich erscheint.
Bis es aber dazu kommt, haben wir, beginnend im Kolonialstaat British Burma des damaligen britischen Empires, tausende von Kilometern durch Südostasien abgeschritten: zuerst als Begleiter*in Edwards, der sich just in dem Moment, da der Dampfer mit seiner Verlobten in der vormaligen burmesischen Hauptstadt Malaya anlegt, aus dem Staub macht. Sieben Jahre sei es zu diesem Zeitpunkt bereits her, so lässt uns der Erzähler aus dem Off wissen, dass Edward seine Verlobte Molly zuletzt gesehen habe. Sieben Jahre, die der Vollzug der Hochzeit schon auf sich warten lasse. Doch angesichts der imminenten Zusammenkunft zögert Edward trotzdem nicht lang, bevor er auf ein Schiff gen Singapur springt.
Dort angekommen wird er gefragt, was ihn denn dorthin führe. „Das Dampfschiff“, lautet seine nonchalante Antwort. Sie stimmt uns einerseits auf den in sich gekehrten Charakter Edwards ein, andererseits verweist sie darauf, dass diese Reise, obgleich Edward am Ende so viele Kilometer und Nationen hinter sich gelassen haben wird, vor allem eine innere ist. Und dann ist da nicht zuletzt die Scham ob der Flucht vor der eigenen Verlobten—nicht ohne Grund treffen wir ihn ganz zu Beginn, am Vorabend der vereinbarten Zusammenkunft mit Molly, betrunken an.
Molly ist jedoch keine, die sich von einem solchen Rückschlag entmutigen ließe. Ohne ins Grübeln ob der Motive ihres Verlobten zu geraten, begibt sie sich bald schon auf die Suche nach diesem, folgt den Spuren, die sie über Edwards letzten Verbleib ausfindig machen kann. Denn eines scheint auch klar: Edward möchte gefunden werden, möchte zumindest die Verbindung aufrechterhalten. Bald schon entwickelt sich dies zum narrativen Muster, das sich, trotz all der Entschleunigung, in der Gomes‘ Filme daherkommen, beinah wie eine leicht bekömmliche Komödie abspielt, in dem sich der Ehemann in spe aus der Verantwortung zu lavieren versucht.
Dazu trägt dann auch bei, dass Gomes neben den farbigen Gegenwartsbildern auch andere Mittel der dramatischen Entfremdung förmlich austestet. Etwa als Molly mit der sogenannten Lady Dragon spricht, die sie auf ihren Reisen kennenlernt, und deren viele Schimpfwörter urplötzlich von einem Peep-Ton zensiert werden, wie man es etwa aus dem amerikanischen Network-TV kennt. Die Gründe für Edwards Flucht werden uns unterdessen vorenthalten. Angesichts der dauerhaft gut aufgelegten, ja geradezu unverwüstlichen Molly zwingt sich aber zumindest der Eindruck auf, dass sich die Motive des flüchtigen Ehemanns in spe weniger an ihr festmachen lassen; dass sich in dessen Auf- und Ausbruch vor allem ein Fernweh erahnen lässt, wie es einst etwa Goethe in seiner Italienischen Reise literarisch festhielt.
Denn wie Goethes Italienreise stellt auch Edwards Reise ein Ausbruch aus der Profanität des Beamtentums dar. Und wie der deutsche Nationalpoet ist auch Edward mit einem Blick für das Schöne ausgestattet, der über das Eigentliche hinausverweist. Nachdem etwa sein Zug nach Bangkok im Regenwald entgleist, sehen wir ihn voll des Glückes vor der im Hintergrund befindlichen Dampflok sitzen, der er genauso wenig Beachtung schenkt wie der bedrohlich wirkenden Schlange, die das Gleisbett entlangschlängelt. „Grand Tour“ ist die Geschichte eines Träumers, der des Träumens wegen träumt. Vielleicht auch deshalb mischt sich Miguel Gomes mit den Farben der Gegenwart immer wieder in sein eigenes Narrativ ein, weil es ihm gegen Ende dann doch wichtiger ist, dass wir bei all dem wach bleiben.
Fazit: Mit „Grand Tour“ setzt Miguel Gomes auf kunstvolle Weise dokumentarische Bilder der Gegenwart mit seiner zum Großteil im Studio gefilmten historischen Fiktion in eine Beziehung und entwickelt, in ungewohnt gewitzter Weise, eine metareflexive Saudade, die von der Sehnsucht nach der Sehnsucht erzählt.
Wir haben „Grand Tour“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.