AOL Instant Messenger, Skaten und der ganz normale Teenagerwahnsinn
Von Ulf LepelmeierBasierend auf seinen persönlichen Erfahrungen gelingt Sean Wang mit seinem Langfilm-Regiedebüt „Dìdi“ ein rasanter Coming-of-Age-Crowdpleaser, der das Lebensgefühl eines Teenagers in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mit all seinen Höhen und Tiefen einfängt. Dabei nimmt der oftmals humorvolle Film, der sowohl beim Sundance Film Festival als auch in der CineKindl-Sektion des Filmfests München jeweils mit dem Publikum ausgezeichnet wurde, seine jugendlichen Figuren und ihr Umfeld angenehm ernst, statt die Tücken und Verunsicherungen des Heranwachsens zu beschönigen. Dass der Protagonist, der von seiner Familie nur „Dìdi“ (Mandarin für „kleiner Bruder“) gerufen wird, nicht nur zwischen Kindheit und Erwachsenendasein, sondern zugleich auch zwischen den Kulturen seiner taiwanesischen Familie und seiner US-Geburtsheimat steht, verleiht dem Film eine zusätzliche eigenständige Note.
Der 13-jährige Chris (Izaac Wang) hat im kalifornischen Fremont gerade die Grundschule abgeschlossen und wird nach den Sommerferien auf die Highschool wechseln. Doch die schulfreie Zeit erweist sich für den Sohn taiwanesischer Einwanderer zwischen wechselnden Freundesgruppen, erster Liebe und Familienzwistigkeiten als weitaus turbulenter als erwartet. Zu Hause gibt es beständig Zoff mit seiner vier Jahre älteren Schwester Vivian (Shirley Chen), die bald zum Studieren aufbrechen wird. Chris fehlt sein in Taiwan lebender Vater und er fühlt sich von seiner fürsorglichen Mutter (Joan Chen) genervt, die wiederum unter den scharfen Kommentaren der mit ihnen unter einem Dach lebenden Schwiegermutter Nai Nai (Chang Li Hua) zu leiden hat. Dabei möchte er doch eigentlich nur zu den vermeintlich coolen Kids – wie seine halbstarken Freunden „Soup“ (Aaron Chang) und Fahad (Raul Dial) – dazugehören und möglichst auch noch bei der etwas älteren Mitschülerin Madi (Mahaela Park) landen. Dafür studiert er deren Social-Media-Kanäle genau, um so herauszubekommen, wie er am besten Eindruck schinden kann.
Regisseur Sean Wang hat sich nicht weniger vorgenommen, als einen „Stand By Me – Das Geheimnis eines Sommers“ für die Generation zu kreieren. Dabei erinnert „Dìdi“ zudem an Filme wie „Mid90s“ (wegen des Skater-Hintergrunds) oder „Eigth Grade“ (wegen der Anfänge der Social-Media-Nutzung). So wird nicht nur Chris‘ Umgang mit Freunden und Familie oder mit den Mitgliedern einer Skater-Gruppe, deren Tricks er schon bald mit der Kamera einfängt, von Wang eingefangen, sondern auch die ersten Schritte des Jugendlichen in der digitalen Welt, die gerade in dieser Zeit stark an Relevanz gewann. So fühlt man sich nostalgisch an den AOL Instant Messenger, MySpace-Fotoalben sowie die Anfänge von YouTube zurückerinnert. Der Film versteht es dabei gekonnt, die in der Jugendzeit scheinbar so relevante Entscheidung des geeignetsten Emojis am Satzende zu transportieren, sodass man mit Chris mitfiebert, wenn er angespannt darauf wartet, was die gerade online gegangene Madi ihm wohl auf seine letzte Message antworten wird.
Obwohl viele persönlich Erfahrungen in den Film einflossen und „Dídi“ den spezifischen Zeitgeist der 2000er transportiert, bietet er über die Zeichnung der Jugendzeit mit erster Liebe, entfesseltem Spaß und familiären Konflikten einen allgemeinen Zugang für alle Altersklassen. Izaac Wang gibt den 13-jährigen Jungen, der doch eigentlich nur akzeptiert werden und dazugehören möchte, dabei aber immer wieder in Fettnäpfchen tritt, unverkrampft und voller Spielfreude. Ihm kann man seine Unsicherheit förmlich im Gesicht ablesen. Dabei ist es ein permanentes Schamgefühl, welches Chris umtreibt und ihn sogar die Herkunft seiner Familie leugnen lässt. Obwohl er in einem überaus multikulturell geprägten Umfeld aufwächst, sieht er sich immer wieder Vorurteilen und teils rassistisch gefärbten Sprüchen ausgesetzt.
Die jungen Darsteller*innen, die mit Ausnahme von Izaac Wang keinerlei vorherige Filmerfahrung mitbrachten, geben dem Film einen realistisch-unverkrampften Anstrich, den der Regisseur mit einer Art Sommercamp-Atmosphäre während der Dreharbeiten auch noch zu verstärken verstand. Nai Nai, eine der beiden Großmütter des Regisseurs, die auch schon in seinem im Jahr 2024 Oscar-normierten Kurzdokumentarfilm „Nai Nai & Waz Po“ vor der Kamera stand, spielt nun auch die Oma der Hauptfigur, was nochmals unterstreicht, wie stark das Projekt mit Wangs eigenem Aufwachsen in Fremont verknüpft ist. Während die 87-Jährige mit spitzen Kommentaren und ihrem besonderen Charm insbesondere die Lacher auf ihrer Seite hat, fungiert Joan Chen („A Murder At The End Of The World“) als das emotionale Zentrum des Films. Sie verkörpert die engagierte Mutter, die allein mit ihrer überkritischen Schwiegermutter und zwei Kindern ein geordnetes Leben in den USA zu führen versucht, herzzerreißend und voller Wärme.
Auch wenn „Dìdi“ gänzlich auf die Lebenswelt und Erfahrungen seines jugendlichen Protagonisten ausgerichtet ist, schafft es der Regisseur, mithilfe der wunderbar aufspielenden Chen, dass gerade auch den Szenen zwischen den Familienmitgliedern eine besondere Relevanz zukommt. Die Geschehnisse des ereignisreichen Sommers werden Dìdi und seine Mutter, die er als ziemlich peinlich einstuft und auf schmerzliche Weise von sich wegstößt, wieder näher zusammenrücken lassen. Dabei gehören die späteren Szenen zwischen Izaac Wang und Joan Chen denn auch zu den eindringlichsten des Films, der genauso wie die emotionale Achterbahnfahrt der Teenagerzeit nicht nur wild-abgedrehte und peinlich bis witzige Momente, sondern eben auch emotionale und fragil-gefühlvolle Augenblicke bereithält.
Fazit: Mit seinem Langfilm-Regiedebüt „Dìdi“ fängt Sean Wang gekonnt das Lebensgefühl von Jugendlichen Mitte der 2000er in den USA und zugleich die noch unbeschwerten Anfangstage der sozialen Medien ein. Ein bittersüßer und unterhaltsamer Coming-of-Age-Film über Scham, falsche Freunde, familiäre Bindung und neue Chancen.
Wir haben „Dìdi“ beim Filmfest München 2024 gesehen, wo er in der Sektion „Wettbewerb CineKindl“ gezeigt wurde.