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    Faruk
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Faruk

    Asli Özge bricht alle Regeln – und lässt das Publikum rätseln

    Von Michael Meyns

    Erst im vergangenen Jahr kam der Spielfilm „Black Box“ von Asli Özge in die deutschen Kinos. Eine mit Thriller- und Mystery-Elementen angereicherte Geschichte über Gentrifizierung, in der alle Zugänge zu einem Berliner Altbau plötzlich und ohne Begründung von der Polizei abgesperrt werden – keiner kommt mehr rein oder raus, aber dafür kochen die Gerüchte hoch, hat die Maßnahme etwas mit Corona, Terrorismus oder gar „den Russen“ zu tun? Nun hat die aus der Türkei stammende, aber seit langem in Berlin lebende Regisseurin einen Film in ihrer Geburtsstadt Istanbul gedreht, der ganz ähnliche Verdrängungs-Themen verhandeln, aber auf noch interessantere Weise. „Faruk“ ist ein Hybridfilm, der geschickt und immer wieder überraschend-verspielt mit seiner Positionierung zwischen Spielfilm und Dokumentation kokettiert, während er nebenbei auch noch eine komplexe Vater-Tochter-Beziehung beschreibt.

    Faruk (Faruk Özge, der Vater der Regisseurin) hat die 90 schon hinter sich gelassen, sieht aber um etliches jünger aus. Seit dem Tod seiner Ehefrau lebt er allein in einer Eigentumswohnung in einem Apartmenthaus in Istanbul, das allerdings bald abgerissen werden soll, um im Rahmen eines staatlich geförderten „Verschönerungsprogramms“ einem Neubau Platz zu machen. Für seine Nachbar*innen ist Faruk aufgrund seines Alters respektierte Anlaufstelle, doch gegen die Gentrifizierung kann sich die Hausgemeinschaft nicht wehren. Faruks Tochter Asli (die Regisseurin Asli Özge) arbeitet als Filmemacherin, reist durch die Welt, präsentiert ihre Werke auf Festivals – und beobachtet nun ihren alternden Vater, den sie in den Mittelpunkt ihres neuen Films stellt, der ihn nicht nur von einer vorteilhaften Seite zeigt und dessen Finanzierung zudem auf wackligen Beinen zu stehen scheint…

    Zwischen all der Bürokratie, die der Neubau mit sich bringt, gönnt sich Faruk (Faruk Özge) eine wohlverdiente Auszeit. Emre Erkmen
    Zwischen all der Bürokratie, die der Neubau mit sich bringt, gönnt sich Faruk (Faruk Özge) eine wohlverdiente Auszeit.

    Mit nacktem Oberkörper steht Faruk in der ersten Szene vor der Kamera, während seine Tochter Asli Özge aus dem Off Regie führt, ihren Vater zu Posen animiert. Links oben sieht man einen roten Punkt, der zeigt, dass gefilmt wird – unten rechts einen Timecode, wie man ihn aus dem Sucher von Videokameras kennt. Dann läuft die Regisseurin selbst durchs Bild und beendet die Aufnahme, der von draußen kommende Straßenlärm war zu laut. Vom ersten Moment an betont Özge mit diesen Stilmitteln die Künstlichkeit des Gezeigten, deutet an, dass das, was man sieht, eine Inszenierung darstellt, selbst wenn sie doch ihren eigenen Vater in seiner eigenen Wohnung mit seinen ganz realen Problemen filmt.

    So wirkt „Faruk“ über lange Zeit eben doch wie ein Dokumentarfilm, bei dem Asli Özge ihren Vater beim Kampf gegen den Verlust seiner angestammten Wohnung beobachtet, beim Kampf gegen die Gentrifizierung. Kennt man „Black Box“, sind die Parallelen nicht zu übersehen: Auch darin kam schnell der Verdacht auf, die mysteriöse Polizeimaßnahme sei nur eine unlautere Methode der Verdrängung, während die Hausgemeinschaft bald in Fraktionen zerfällt, das Gemeinschaftsgefühl ist dahin. Eine Variation dieser Geschichte erzählt nun auch „Faruk“, der aber nebenbei immer mehr auch zu einem Film über das Verhältnis zwischen Vater und Tochter wird und sich dabei zunehmend von einem (scheinbaren) Dokumentarfilm hin zu einem (losen) Spielfilm entwickelt.

    Was ist echt und was nicht?

    Was tatsächlich dokumentarisch gefilmt und was nachgestellt wurde, was authentisch ist und was womöglich sogar reine Fiktion, bleibt offen. Sogar einzelne Traumsequenzen streut Asli Özge ein, etwa wenn ihr Vater, der sich ohnehin immer freut, wenn die Kandidatinnen von Casting-Shows im Fernsehen eher wenig anhaben, einer jungen nackten Frau in einem mit Discolicht beleuchteten Flur nachgeht und dabei selbst nackt ist. Viel mutet Asli Özge in solchen Szenen ihrem Vater zu, entlarvt ihn dazu auch immer wieder als lüsternen Mann, der in der Zeitung intensiv Fotos von leicht bekleideten Schönheiten studiert. Zum Ende hin eskaliert das Verhältnis zwischen Vater und Tochter sogar auf ebenso überraschende wie niederschmetternde Weise – aber spätestens hier ist klar, dass wir uns nun endgültig im Bereich der Fiktion befinden.

    Aus einem in Ansätzen dokumentarischen Film über Gentrifizierungsprozesse in Istanbul, wo besonders alte, traditionelle Stadtviertel einer von oben angeordneten Erneuerung zum Opfer fallen, hat sich da längst ein fiktiver Film entwickelt, der vom Verhältnis der Generationen erzählt. So wie in „Black Box“ durch die Angst vor der Verdrängung Freundschaften zerbrachen, sieht sich auch in „Faruk“ das Vater-Tochter-Verhältnis zunehmender Belastungen ausgesetzt. Markiert wird dieser Wandel durch ein langsames Verschwinden von Asli Özge aus dem Film. Sieht man anfangs noch regelmäßig Endklappen, die ins Bild gehalten werden, oder die Angel des Tonmanns, verschwinden diese Markierungen der Inszenierung bald. Nur noch am Telefon wird Asli Özge im weiteren Verlauf zu hören sein, während ihr Vater bzw. die inszenierte Version ihres Vaters, allein in Istanbul zurückbleibt. Ein durchaus symbolisches Bild für die Veränderungen und Zerstörungen, die zügellose Gentrifizierung anrichten kann.

    Fazit: Mit ihrem Hybrid-Film „Faruk“ gelingt Asli Özge ein spannendes, filmisch extrem ambitioniertes Ergänzungsstück zu ihrem Spielfilm „Black Box“, das erneut um das Thema Gentrifizierung kreist, diesmal aber zusätzlich auch noch ein (vielleicht?) sehr persönlicher, doppelbödiger, mit allen Regeln des Dokumentargenres brechender Film über das Verhältnis zu ihrem Vater geworden ist.

    Wir haben „Faruk“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er in der Sektion Panorama gezeigt wurde.

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