Ein Film wie purer Sprengstoff - und eine echte Spaßgranate!
Von Susanne GietlDrogendealern schießt man am besten ins Knie, dann können sie nicht weiterlaufen. Auf dieses Vorgehen bezieht sich der Name der in irischer Sprache rappenden Hip-Hop-Gruppe Kneecap, die mit ihren Texten Randale macht und auf der Bühne regelmäßig den Aufstand probt. Regisseur Rich Peppiatt war 2019 ein so großer Fan, dass er unbedingt einen Film über sie machen wollte. Er entschied sich aber gegen eine Doku und für einen Spielfilm im Style der Gruppe, um sich künstlerisch so richtig austoben zu können. Bis er allerdings mit Kneecap alias Liam Óg aka Mo Chara und Naoise Ó Cairealláin aka Móglaí Bap sowie Beatproduzent JJ aka DJ Próvai persönlich sprechen durfte, musste er zunächst monatelang auf ihr Management einreden. Als sie schließlich doch in ein Treffen einwilligten, tranken sie bis in die frühen Morgenstunden. Auch in Peppiats Kinodebüt spürt man diesen Sex-Drugs-Rave-und-Hip-Hop-Vibe.
Entstanden ist ein semi-fiktionales Biopic im rasanten Beastie-Boys-Style über den Siegeszug von zwei irischen Hedonisten in Belfast, die mit gälischen Rhymes über Politik, Sex und Drogen zu Galionsfiguren der irischen Sprache werden. Ähnlichkeiten mit dem wahren Leben sind nicht zufällig, sondern Absicht. Für die Arbeit an dem Film lernte Peppiatt sogar extra gälisch. Das Drehbuch mit fast nur irisch-gälischen Dialogen (deshalb ist der Film auch für den Fremdsprachen-Oscar wählbar) schrieb er gemeinsam mit dem Punk-Rap-Trio. Zudem schickte er sie zu einem sechsmonatigen Crashkurs in Sachen Schauspiel – und los gings.
Der Plot im Schnelldurchlauf: Liam (Mo Chara) und Naoise (Móglaí Bap) sind seit Kindestagen Freunde. Als der Musiklehrer JJ durch Zufall auf Liam trifft und sein Textbuch findet, überredet er die beiden, Tracks daraus zu produzieren. Während einer Produktionssession klettert JJ im absoluten Rausch in eine Mülltonne, um Liams LSD-Briefchen herauszuholen. Am Ende sind sie alle ziemlich durchgepudert und das Demo-Tape im Kasten.
Irgendwie fühlt sich das alles manchmal verdammt nach „Trainspotting“ an. Mo Chara, Móglaí Bap und DJ Próvai spielen drogeninduzierte, comicartige Versionen von sich selbst. Die Optik passt Kameramann Ryan Kernaghan dem jeweiligen Rausch an, verzerrte Bilder und beschwört halluzinogene Erscheinungen herauf…
Aber „Kneecap“ ist trotzdem kein typischer Drogenfilm, sondern auch ein Film über die Generation der „Waffenstillstandsbabys“. Naoise und Liam wachsen zwischen pro-englischen Protestanten und pro-irischen Katholiken auf, die sich für die Wiedervereinigung von Irland und Nordirland sowie ihre eigene Sprache (irisch-gälisch) einsetzen. Und deshalb beginnt die Story auch mit schnellen Schnittbildern von Unruhen in Belfast. „Jede Story über Belfast beginnt so“, kommentiert Kneecap-Rapper Liam das Geschehen. „Diese aber nicht!“ Fortan ist Liam Erzähler und Hauptfigur zugleich, seine Rhymes sind mal englisch, mal irisch. Gälische Passagen werden in Schreibschrift untertitelt, es ist schwer, mit dem Sprechtempo mitzuhalten. Aber auch, wenn man nur die Hälfte mitlesen kann, versteht man: Diese Texte sind der pure Sprengstoff!
„Get The Brits Out“, fordern „Kneecap“ – und zeigen den Briten dabei ihren nackten Arsch. Im echten Leben wurde JJ deswegen als Lehrer suspendiert, im Film trägt er eine grün-weiß-orange gestreifte Schlupfmütze mit Augenlöchern, um von niemandem erkannt zu werden. Es sind die Farben der irischen Flagge und die Mütze ist ein Markenzeichen des Trios. Die Combo rappt über Sex und Drogen. Gibt es kein Wort für Koks, erfinden sie eins. Móglaí Bap, dessen Muttersprache irisch und nicht englisch ist, hat sich „3CAG“ auf die Brust tätowiert. „3CAG“ steht für „drei Konsonanten und ein Vokal“ (irisch: „3 chonsan agus guta“) und bedeutet MDMA. Auch das ist Jugendkultur. „H.O.O.D.“ ist ein Spoken-Word-Ravestück über die beiden Rapper als „low life scum“ (niederträchtiger Abschaum), „C.E.A.R.T.A“ steht für irische Rechte und hat die Coolness von Old-School-Hip-Hop.
Schön ist die erste Begegnung im Film von Musiklehrer JJ als Spontan-Übersetzer für Liam im Polizeirevier. In Belfast sprechen 8.000 Menschen gälisch, die Menschen auf dem Polizeirevier nicht. So scharf wie Peppiats Anklage ist auch der Schlagabtausch, den sich Liam und JJ liefern werden, um die sprachliche Kugel auf die Polizei abfeuern. Während Liam den Frust einer ganzen Generation in seine Texte packt, steckt Naoise auch persönlich mittendrin.
Sein Vater Arló (Michael Fassbender) ist ein überzeugter IRA-Mann, der nach Sprengstoffanschlägen seit Jahren vor der Polizei auf der Flucht ist und seinem Sohn schon früh beigebracht hat, dass jedes irisch gesprochene Wort eine abgefeuerte Kugel für die irische Freiheit ist. Ein Land ohne Sprache sei nur eine halbe Nation. Während Kneecap das intergenerationale Trauma durch den Konsum von Drogen aufarbeiten, wollen die R.R.A.D. (Radical Republicans Against Drugs) und eine ziemliche hartgesottene Detektivin (Josie Walker) die Band und Naoise zu Fall bringen. Natürlich zeigen „Kneecap“ allen den Mittelfinger und machen weiter.
Fazit: Mit „Kneecap“ hat Rich Peppiatt einen so provokanten und politischen wie unterhaltsamen und treibenden Film mit Beastie-Boys- und „Trainspotting“-Vibes über ein energetisches Trio geschaffen. Es ist kein Wunder, dass „Kneecap“ auch international längst als einer der größten Überraschungshits des Jahres gefeiert wird – und die Truppe selbst geht seit dem Kinostart sogar noch steiler als zuvor. Das ist keine irische Kugel mehr, das ist eine gälische Atombombe.
Wir haben „Kneecap“ beim Filmfest Hamburg 2024 gesehen.