„Als ich dich fand, ging eine Sonne auf. Und der Himmel war so nah. Und deine Augen versprachen mir so viel, was ich noch nie, niemals sah. Wir glaubten beide an die Liebe. Warum brach sie entzwei, sie entzwei?” (1)
Die Kamera als unser Auge, scheinbar jedenfalls. Eher: unser Auge wird verführt, an die Linse gelegt. Das Auge schwankt durch die Szenen einer Ehe, eines Alltags, eines Jobs, einer Familie, früherer Bekanntschaften, indem die Kamera uns zu ihnen hinführt, hautnah meistens und wie in einem Alltagshorrorfilm. Diese Nähe trägt oft klaustrophobische Züge. Ob Dietrich Lohmann, der den Film fotografierte, in den Räumen des Betriebs, in dem Herr R. arbeitet, oder in dessen Wohnung filmt: immer sind wir in beängstigender Nähe von Personen, die sich nichts zu sagen haben, obwohl sie, außer Herrn R. (Kurt Raab) selbst, der meistens schweigt, viel reden.
Vor allem Frau R. (Lilith Ungerer) scheint redselig, scheint auch etwas chaotisch, weil sie schon wieder einen leichten Unfall mit dem Auto hatte und auch ansonsten sehr lebendig wirkt. Doch der Schein trügt. Frau R. hat nichts zu bieten, nichts. Sie wie die anderen Akteure in diesem Film leben in einer dieser Strukturen, die man mit dem Begriff „Monotonie” nur schwerlich umschreiben kann. Langeweile, Verkrustung, ja, auch so könnte man den Prozess, der eigentlich ein Zustand ist, oder noch eher ein ewig gleicher Kreislauf, beschreiben.
Herr R., seine Kollegin, die Frau Eder (Lilo Pempeit, Fassbinders Mutter), und die namenlosen Kollegen (Harry Baer, Peter Moland), arbeiten in Herrn Marons (Franz Maron) Ingenieurbüro. Die Herren zeichnen Pläne, die Dame tippt. Die drei erzählen sich geradezu belanglos langweilige Witze, während sie das Bürogebäude verlassen und der Herr R. schweigt und seines Weges geht. Herr R. ist meist ein ruhiger Mensch. Ein arrivierter Mensch, denn er hat eine „gewisse Position” und die Chance zu einem „gewissen” Aufstieg. Seine Frau ist erfreut darüber, eine andere Wohnung könnte man sich leisten.
„No, no, geh' nicht vorbei, als wär’ nichts gescheh’n. Es ist zu spät, um zu lügen. Komm und verzeih, ich werd’ mit dir geh’n,
wohin dein Weg auch führt. Und die Welt, sie wird schön.” (1)
Herr R. aber ist manchmal auch redselig, etwa als er die ehemalige Schulfreundin seiner Frau (Hanna Schygulla) sieht, die seiner Meinung etwas zu vulgär herumläuft, etwas zu sehr angemalt und etwas zu viele Haare auf dem Kopf hat. So könnte seine Frau nicht herumlaufen, denn schließlich habe man gesellschaftliche Verpflichtungen.
Dann schweigt Herr R. wieder, denn seine Eltern (Vinzenz Sterr, Maria Sterr) sind zu Besuch, und er sitzt etwas abseits, raucht, viel zu viel, an die 80 Zigaretten am Tag, während sich seine Mutter mit seiner Frau unterhält und der Opa mit dem Enkel (Amadeus Fengler), der ein ruhiger, verschlossener Bengel ist und in der Schule Schwierigkeiten hat, vor allem mit Mathematik. Beim familiären Winterspaziergang ist der Junge plötzlich verschwunden, der Vater findet ihn, dessen Mutter schimpft über Frau R., die nicht aufgepasst habe, und Frau R. verteidigt sich, das könne ja mal passieren, und so weiter und so fort.
Da kommt keine Freude auf, keine Kurzweil, ebensowenig, als drei Nachbarinnen (Ingrid Caven, Irm Hermann, Doris Mattes) und ein Nachbar (Hannes Gromball) zum Kaffeenachmittag erscheinen und sich mit Frau R. über Belangloses und Nichtssagendes unterhalten und ab und zu eine Spitze unter freundlichem Lächeln den einen oder anderen trifft. Auch eher harmlos, aber mit unterschwelliger Aggression verbunden.
Eine heile, kranke Welt, eine Welt, in der nichts passiert, obwohl sich alles bewegt, alle reden, alle arbeiten. Nur hier und da kommt ein wenig Leben in diese tote Welt, etwa wenn Herr R. in einem Schallplattengeschäft die beiden Verkäuferinnen (Eva Pampuch, Carla Egerer) nach einer Platte fragt, deren Titel und Interpreten er vergessen hat, ein Stück das am Vorabend in der Hitparade im Radio gelaufen ist. Die beiden Frauen können sich kaum zurückhalten, die eine muss sich umdrehen, um zu lachen, weil der Herr R. plötzlich versucht, den Anfang des Hits zu summen. Aber immerhin hat er Erfolg und man findet Christian Anders Hit „Geh’ nicht vorbei”. Dieser Erfolg ist auch schon das einzige, was Herr R. als Erfolg verbuchen kann. Vielleicht noch die Anmaßung auf einer Betriebsfeier, im betrunkenen Zustand Brüderschaft mit seinem Chef schließen zu wollen. Vielleicht noch der Besuch eines alten Schulfreundes (Peer Raaben), mit dem er in Erinnerungen an die eklige Schulzeit schwelgt, über die man jetzt lachen kann, und an die ebenso verhassten und erzwungenen Kirchenbesuche, in denen man aus dem Gesangbuch lesen musste, während man jetzt vor Freude eines dieser frommen Lieder trällern kann.
„Wo ich auch bin, seh’ ich dein Bild vor mir. Dich vergessen fällt mir schwer. Die grauen Tage vergehen ohne Sinn.
Die Nacht ist lang und so leer. Ich bin allein.” (1)
Der Herr R. ist ein etwas merkwürdiger Mensch, aber eigentlich nicht außergewöhnlich, nichts besonders, nicht herausragend aus der Gruppe, kein Elitärer, kein Snob, weiß Gott nicht, kein Sonderling. Er lebt sein Leben, indem er es nicht lebt – wie alle anderen auch, selbst sein Sohn, der sich in sich zurückgezogen zu haben scheint, wie seine Frau, die die Öde ihres Lebens durch rein äußerliches Temperament zu verkleiden weiß. Herr R. ist nicht absonderlicher als alle anderen, und doch reißt es in ihm mehr als in den anderen. Es zerrt, nicht nur an seinen Nerven, die er mit Massen von Zigaretten zu beruhigen versucht, nicht nur an dem bisschen Seele, das er noch hat. Es zerreißt ihn fast.
Als eine der Nachbarinnen (Irm Hermann) Frau R. besucht und beide sich lautstark über Skifahren und anderes unterhalten, während Herr R. Fernsehen schaut, bemerkt man das erste Mal, wie diese Zerrissenheit Herrn R. quält, ohne dass ihm bewusst ist, was mit ihm und um ihn herum passiert. Als seine Frau in die Küche geht und die Nachbarin – noch lauter – weiter erzählt, was gar nichts mit Erzählung zu tun hat, steht der Herr R. auf, nimmt einen verzierten Kerzenhalter, zündet die Kerze an, so, als wolle er das weihen, was er jetzt tut, und erschlägt mit dem Kerzenhalter erst die Nachbarin, dann seine Frau und schließlich seinen Sohn im Bett. Am nächsten Tag geht der Herr R. ins Büro. Keiner merkt ihm etwas an. Dann geht er auf die Toilette und erhängt sich.
„Nein, so kannst du nicht geh’n. Bleib’, bitte bleib' doch steh’n. Du musst doch fühlen, dass ich dich, ja dich, ja dich nur liebe.” (1)
Warum läuft denn der Herr R. Amok, fragt man sich. Wird es nicht deutlich, warum er dies tut? Oder darf man kein Verständnis für ihn haben, den Herrn R., weil es unmoralisch wäre, ihn zu verstehen, weil er unmoralisch gehandelt hat. Nur, wo war die Moral in dieser Geschichte, wer verkörpert sie? Wer verkörpert hier überhaupt irgend etwas? Mord bleibt Mord. Die einen sterben langsam, weil sie nicht wirklich leben – ohne es zu merken. Herr R. zieht eine logische Konsequenz: Er beendet das Leben seiner Familie einschließlich seines eigenen. Dies ist eine „innere” Logik, eine, die den Strukturen dieses leblosen Lebens inhärent ist – ob man das nun mag oder nicht, wahrhaben will oder nicht.
Fassbinder nimmt in „Warum läuft Herr R. Amok?” vieles von diesem langsamen, siechenden Leben vorweg, dieser Quälerei, die er später in „Händler der vier Jahreszeiten” (1971) noch deutlicher in Szene gesetzt hat. Die furchtbare Sprachlosigkeit der Sprache der Personen, die versteckten Aggressionen und Auto-Aggressionen, die unter der Oberfläche einer Welt bedrohlich warten, sich zu entladen, sind Ausdruck einer fast völlig erstarrten Gesellschaft. Und es wird im Rückblick auf diesen Film deutlich, was es heißen könnte, dass die Normalität, jedenfalls eine bestimmte, es ist, die die Gewalt in extremer Form hervorbringt – so oder so, als Ausdruck der Tat eines einzelnen oder als Exzess ganzer Gruppen gegen andere.
„Warum läuft Herr R. Amok?” ist einer jener Fassbinder-Filme, in denen Kurt Raab eine exzellente Hauptrolle spielt – neben etwa „Bolwieser” (1976) und „Satansbraten” (1975) –, und zwar in dem Sinne, dass er in dieser Rolle fast vollständig aufgeht.
(1) „Geh’ nicht vorbei”, Autor: Joachim Heider; 1969 gesungen von Christian Anders.