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    Oh, Canada
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Oh, Canada

    Der wohl persönlichste Film von Paul Schrader

    Von Christoph Petersen

    Nach seiner viel beachteten Gewalt-und-Vergebung-Trilogie „First Reformed“, „The Card Counter“ und „Master Gardener“ legt „Taxi Driver“-Autor Paul Schrader im Alter von 77 Jahren seinen womöglich persönlichsten Film vor: Basierend auf dem 2021 erschienenen Roman „Foregone“ von Russell Banks*, der auch schon die Vorlage für Schraders abgründigen Thriller „Der Gejagte“ (1997) geliefert hat, handelt „Oh, Canada“ von einer (un)möglichen Lebensbeichte sowie dem Niederreißen des eigenen Mythos. Für Schrader, der in den vergangenen Jahren mit der Alzheimer-Erkrankung seiner Ehefrau zu ringen hatte und nach einer COVID-Lungenentzündung davon ausging, selbst gar nicht mehr aus dem Krankenhaus herauszukommen, sind das spürbar Themen, die ihm besonders nahegehen.

    Im Zentrum steht der Dokumentarfilmer Leonard Fife (Richard Gere), der sich einst mit Filmen über geheime Agent-Orange-Tests der US-Armee und pädophile Priester in der Katholischen Kirche einen Namen gemacht hat. Vor seinem nahenden Krebstod hat er zugestimmt, dass zwei seiner ehemaligen Student*innen, die inzwischen sogar einen Oscar gewonnen haben, eine Dokumentation über ihn machen. Nun steht das große Interview an. Das Filmteam hat 25 Fragen vorbereitet, anhand derer die wichtigsten Stationen aus Leben und Karriere abgeklappert werden sollen. Aber Leonard hat einen eigenen Plan: Er will eine Lebensbeichte ablegen, weniger für die Nachwelt als vielmehr für seine Frau Emma (Uma Thurman), ebenfalls eine ehemalige Studentin, mit der er inzwischen seit 30 Jahren verheiratet ist.

    Richard Gere hat mit Paul Schrader schon vor 44 Jahren einen Film zusammen gemacht, „Ein Mann für gewisse Stunden“. Oh Canada-LLC ARP
    Richard Gere hat mit Paul Schrader schon vor 44 Jahren einen Film zusammen gemacht, „Ein Mann für gewisse Stunden“.

    Leonard kann zwar nur noch mithilfe einer Krankenschwester aufstehen oder aufs Klo gehen, aber zu Beginn des Interviews legt er eine unbedingte Entschlossenheit an den Tag, mit all den falschen Mythen um seine Person aufzuräumen. In Rückblenden erfahren wir, dass er als junger Mann (Jacob Elordi) offenbar noch mehr Ehen und Kinder hatte als selbst Emma wusste. Außerdem scheint da irgendwas mit seinem Status als Kriegsdienstverweigerer nicht zu stimmen. Dabei war die Ablehnung des Vietnamkriegs doch überhaupt erst der Auslöser für die Flucht aus den USA nach Kanada – und Teil seines Gründungsmythos als Establishment-kritischer Dokumentarfilmer.

    Weder seine Frau noch das Filmteam scheinen das alles zunächst sonderlich ernst zu nehmen. Da würde ihm wohl seine Erinnerung einen Streich spielen, er würde Dinge durcheinanderbringen. Aber als Publikum im Kinosaal, die wir den unerschütterlichen Willen in den Augen von Richard Gere sehen, ist klar: So war es wirklich – und alles steuert zu auf das finale Geständnis, das den Mythos eines Mannes noch in seinen letzten Tagen in sich zusammenkrachen lassen wird. Aber Pustekuchen – das ist nicht der Film, an dem Schrader interessiert ist. Ihm geht es nicht um den großen Twist in der ohnehin fiktiven Biografie eines spezifischen Mannes, sondern ganz universell um Fragen nach dem Ringen mit Erinnerungen und dem Verlust der Macht über die Bewertung des eigenen Lebens.

    Jacob Elordi zu besetzen hat den großen Vorteil, dass man gar nicht erst lange erklären muss, warum Leonard in jungen Jahren alle Frauen so zugetan waren. Oh Canada-LLC ARP
    Jacob Elordi zu besetzen hat den großen Vorteil, dass man gar nicht erst lange erklären muss, warum Leonard in jungen Jahren alle Frauen so zugetan waren.

    Paul Schrader spielt von Beginn an mit verschiedenen Formaten: Mal sind die Bilder im engen Academy-Ratio-Format gefasst, dann nehmen sie im Breitbild-Format doch wieder die ganze Leinwand ein. Meist sind sie in Farbe, aber es gibt immer wieder auch Abschnitte in Schwarz-Weiß. Manches sieht aus, als sei es auf 16mm- oder 35mm-Filmmaterial gedreht. Dann kommen die digitalen Aufnahmen des Interviews, bei dem die Kamera teils so nah an das Gesicht des Sterbenden heranzoomt, dass man das Gefühl hat, es ginge darum, jeden einzelnen Bartstoppel für die Nachwelt festzuhalten. Eine konkrete Logik für die Wechsel lässt sich kaum ausmachen. Das gilt auch für den Voiceover, der mal von Leonard selbst und mal von einem seiner verstoßenen Söhne gesprochen wird.

    In einigen Rückblenden wird Jacob Elordi dann plötzlich doch von Richard Gere ersetzt, der sich da an „seine“ junge schwangere Frau heranschmiegt. So streut Schrader inszenatorisch schon früh die ersten Hinweise auf die Brüchigkeit der eigenen Lebenserinnerungen – und diese schlägt sich dann irgendwann auch in der Narration nieder. Leonard verstrickt sich in Widersprüche, weiß nicht mehr, wo er ist, fragt immer wieder, ob die Kamera läuft. Wir sehen einzelne Rückblenden plötzlich zweimal, weil der Interviewte nicht mehr genau weiß, wo er in seiner Geschichte gerade angekommen ist. Der zuvor so geradlinige Weg zum großen Knall wird immer diffuser, franst aus, Figuren und Zeitebenen überlagern sich oder werden durch die ständigen Sprünge zumindest untrennbar miteinander verwoben.

    Zwar gibt es für die Sache mit der Kriegsdienstverweigerung noch eine Aufklärung, bei der u.a. ein besonders pointiert-zynisches Anspielen der titelgebenden kanadischen Nationalhymne eine Rolle spielt, aber darum geht’s dann eigentlich schon gar nicht mehr so wirklich.

    Fazit: „Oh, Canada“ handelt davon, wie einem zum Beichten bereiten Mann auf den letzten Metern das eigene Leben, die eigenen Erinnerungen und der eigene Mythos entgleiten. Paul Schrader übersetzt diese Erfahrung auf die Leinwand, indem er seine zu Beginn noch geradlinige Narration ebenfalls langsam entgleiten und schließlich im Ungefähren zersplittern lässt. Eine faszinierende, berührende, aber auch (bewusst) frustrierende Seherfahrung.

    Wir haben „Oh, Canada“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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