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    Was ist schon normal?
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Was ist schon normal?

    Zehn Millionen Franzosen können nicht irren!

    Von Gaby Sikorski

    Filme mit Menschen zu drehen, die eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben, erfordert nicht nur viel Fingerspitzengefühl, sondern auch eine dicke Haut. Letzteres aber nicht etwa aufgrund der Zusammenarbeit mit den Beeinträchtigten, die in aller Regel extrem teamfähig und freundlich sind, was man nicht immer von allen Beteiligten an einem Spielfilm sagen kann. Das Problem sind eher die kritischen Beobachter*innen, die sich gelegentlich und unangemessen als Beschützer*innen der Behinderten verstehen – und gern mal mit unangenehmer Arroganz von oben herab Klischees bemühen, die letztlich darauf zielen, behinderten Menschen ihre Autonomie abzusprechen. Filme mit tatsächlich beeinträchtigten Menschen sind vielleicht auch deshalb eher rar gesät, und im Komödienfach passiert es sogar noch seltener. „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ ist ein gelungenes Beispiel – ein Roadmovie mit Herzenswärme und viel Situationskomik rund um die Freundschaft zwischen einem vom Leben gelangweilten Bestatter und einem liebenswert schrulligen Hobbyphilosophen mit körperlichen Einschränkungen.

    Eine Komödie rund um eine ganze Gruppe von beeinträchtigten Menschen ist da noch eine deutlich größere Herausforderung. Der französische Komiker, Autor und Schauspieler Artus hat sich für sein Regie-Kinodebüt „Was ist schon normal?“, das in Frankreich bereits unglaubliche zehn Millionen Kinobesucher*innen angezogen hat, also viel vorgenommen: Elf unterschiedlich eingeschränkte Menschen wollen gemeinsam einen entspannten Hüttenurlaub verbringen. Sie warten am Reisebus auf einen Nachzügler, als plötzlich zwei Gauner auftauchen: Papa La Fraise (Clovis Cornillac) und Sohn Paulo (Artus selbst) haben soeben einen Juwelier ausgeraubt und ihr Fluchtwagen wird gerade abgeschleppt, weil sie ihn auf einem Behindertenparkplatz abgestellt haben. Fälschlicherweise halten die Betreuerinnen der Reisegruppe Paulo für den fehlenden Mitreisenden, und angesichts des nahenden Polizeiaufgebots stellt La Fraise seinen Sohn kurzerhand als den fehlenden Sylvain vor. Paulo findet sich also unversehens in der Rolle eines Behinderten wieder, während sich La Fraise als sein Betreuer ausgibt. Es folgt eine sommerliche Reise, die wohl niemand jemals wieder vergessen wird…

    SquareOne Entertainment
    Eine Reisegruppe zum Verlieben – zehn Millionen Besucher*innen wollten in Frankreich bereits bei diesem Sommerurlaub dabei sein.

    Der turbulente Einstieg lässt Gutes hoffen, und diese Vermutung bewahrheitet sich auch zunächst: Scheinbar mühelos schafft es der Regieneuling, seine auf den ersten Blick ziemlich unüberschaubare Protagonist*innen-Schar in bester Komödienmanier kurz vorzustellen, wobei er nicht immer sehr feinsinnig vorgeht. Alle haben hier ihre mehr oder weniger charmanten Eigenheiten, auch die Betreuungspersonen: Einer flucht die ganze Zeit, einer verkleidet sich ständig, gern auch mal als Frau, einer spielt manisch Fußball – und so geht es weiter. Überhaupt ist der Humor eher rustikal als feinsinnig, die Gags wirken manchmal eher gezimmert als komponiert. Aber das passt ganz gut zu dieser Truppe, die mit ihren Betreuerinnen Alice (Alice Belaïdi) und Céline (Céline Groussard) sowie ihrem Kollegen Marc (Marc Riso) ins Mittelgebirge reist, um in einer abgelegenen Berghütte das einfache Landleben zu genießen.

    Zu einem solchen Trip gehört naturgemäß eine gewisse Klassenreise-Atmosphäre, und – die Älteren werden sich erinnern – auf Klassenreisen geht es meistens zünftig zu, auch wenn der derbe Humor dann manchmal nicht jedermanns Sache ist. Den Kern der Gruppe bildet eine Behinderten-WG, die durch einige externe Mitreisende erweitert wird. Viele, aber eben nicht alle, kennen sich untereinander. Da ist zum Beispiel die freundliche Marie (Marie Colin), der dauernd irgendwelche Gegenstände an den Kopf fliegen, oder der fußballbesessene Baptiste (Théophile Leroy). Und mittendrin die beiden Gangster, die eigentlich nur wegwollen. Natürlich haben die Behinderten sofort durchschaut, dass der angebliche Sylvain keiner von ihnen ist, auch wenn sich Paulo alle Mühe gibt, möglichst originelle Verhaltensweisen an den Tag zu legen.

    Jeder hat das Recht auf derbe Zoten

    Doch niemand aus der Gruppe verrät das Geheimnis an Alice, Céline und Marc, sie halten zusammen und setzen sich auch mal zur Wehr gegen allzu niedliche Beschäftigungsangebote – sie wollen bitte nicht mehr malen! Peu à peu entwickelt sich aus dem zusammengewürfelten Haufen so ein Team, zu dem auch Paulo und La Fraise gehören. Etwas konstruiert anmutende Verwicklungen gehören da ebenso dazu wie ein paar nette Running Gags – zum Beispiel über die Pampe, die ihnen täglich und in erschütternder Lieblosigkeit von einer mürrischen Köchin und ihrem unterdrückten Sohn als Abendessen auf die Teller geklatscht wird.

    Es gibt aber auch eine rührende Liebesgeschichte zwischen Marie und ihrem Verehrer, der sich von Sylvain/Paulo über sein Vorgehen beraten lässt. Zusätzlich werden in Nebenhandlungen, auch gern mal ernsthaft, viele weitere Themen angesprochen. Dazu gehören die Umstände, unter denen die Betreuer arbeiten, aber auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Die Story um Paulo und La Fraise gerät dabei eigentlich immer mehr in den Hintergrund, wird dann aber zum Ende hin in eher erwartbarer Form wieder aufgegriffen und führt zu einem beinahe märchenhaften Schluss, der vermutlich auch die Herzen der grimmigsten Kinogäste erweichen wird.

    SquareOne Entertainment
    Paulo (Artus) wird von den tatsächlich behinderten Teilnehmer*innen sofort entlarvt – nur die Betreuer*innen tappen weiter im Dunkeln.

    All das ist hübsch und in flottem Tempo erzählt, mit viel Musik aus Pop und Chanson. Immer wieder gibt es schöne Anspielungen darauf, wie der leider noch immer häufige Umgang mit behinderten Menschen aussieht, besonders dann, wenn sie erwachsen sind – häufig werden sie unterschätzt und wie kleine Kinder behandelt. Insofern kann der Film sicherlich dazu beitragen, einige Vorurteile abzubauen, und zwar auch deshalb, weil sämtliche Beteiligte mit viel Spielfreude dabei sind und unter anderem beweisen dürfen, dass sie mehr draufhaben, als man ihnen gemeinhin zutraut: Sie spielen schließlich nicht einfach nur, was ihnen vorgesetzt wurde, vielmehr hat Artur erst seinen Cast um sich versammelt, um dann mit ihnen gemeinsam ihre Figuren zu entwickeln. Am aller entzückendsten ist dabei übrigens die nebenbei mit erzählte Geschichte des echten Sylvain, der sich – weil zu spät gekommen – kurzerhand einer anderen Reisegruppe anschließt.

    Fazit: Als Regie-Kinodebüt des in Frankreich bereits sehr bekannten Multitalents Artus ist die Gute-Laune-Komödie rund um zwei Gauner auf der Flucht, die sich der Urlaubsreise einer Behinderten-WG anschließen, durchaus beachtenswert. Die Atmosphäre ist beinahe durchgängig fröhlich und schwappt schnell von der Leinwand hinunter in den Kinosaal. Alle Darsteller*innen agieren mitreißend, und da macht es fast gar nichts, dass die Witze manchmal grob und die Gags manchmal vorhersehbar sind. Die flotte Geschichte mit ihrer augenzwinkernden Kritik am üblichen Verhalten gegenüber Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sorgen für einen insgesamt positiven Gesamteindruck. Das alles wird aber noch überstrahlt von einer Warmherzigkeit, die glücklicherweise nicht ins Rührselige kippt – die unfassbaren zehn Millionen Besucher*innen sind und bleiben eine Mega-Überraschung, aber nachvollziehen kann man den Ansturm trotzdem.

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